Perspektive erfordert stets einen festen Ort, eine einnehmbare Position, von welcher der Blick in eine bestimmte Richtung geworfen werden kann. Sie steht für das Verhältnis zwischen den Dingen, liefert Klarheit, Erkenntnis und Sicherheit. Jeder wünscht sich Sicherheit, und jeder wünscht sich eine Perspektive im Leben. Wenn der sichere Boden unter den Füßen aber fehlt, dann kann kein Gleichgewicht gefunden werden, dann kommt keine klare Sicht zu Stande, dann fehlt die Perspektive.

Genau so ergeht es den belgischen Teenagern Kevin, Sammy, Lina und John. Fien Troch setzt sie in ihrem Film HOME in eine dunkle Welt, die – so scheint es – nur durch die strahlenden Lichter ihrer Smartphonedisplays erleuchtet werden kann. Tatsächlich spielt sich das Leben der Jugendlichen wortwörtlich in den Dimensionen eines Handys ab; zumindest dann, wenn die Regisseurin einmal von den wackeligen Bildern im 4:3-Verhältnis ablässt, um sie durch schmale Videoschnipsel in der Optik von Smartphoneaufnahmen zu ersetzen. HOME baut auf eine raue wie ehrliche Inszenierung und nutzt den jugendlichen Zeitgeist als narratives Mittel.

Was besagte Bilder zur Betrachtung freigeben, ist die besorgniserregende Zufluchtswelt und Lebensrealität der Jugendlichen, bestehend aus Drogen, Gewalt und Exzess. Zuflucht suchen sie vor den Übeln der eigenen vier Wände, deren Leere mit elterlicher Verständnislosigkeit, Distanz, selbst sexueller Gewalt ausgefüllt ist. Fien Troch zeigt auf bisweilen grausame Art, wie zwei Generationen die Kommunikationsgrundlage verlieren und welche schwerwiegenden Folgen daraus resultieren.

Treffend, weil ebenso ziellos wie die Protagonisten, bewegt sich die Narration ins Ungewisse. Sie vermittelt vielmehr ein Gefühl und eine Situation, anstatt sich an einem konventionellen Aufbau oder einer Spannungskurve entlangzuhangeln. Das große Ganze wird beiläufig und sporadisch weitergesponnen, während die Jugendlichen in einer Manier, die gleichermaßen dokumentarisch wie homevideoartig anmutet, von der Kamera begleitet werden. So wirkt das Endprodukt wie eine Art Collage aus Situationen und Begebenheiten, welche die Lebenslage der Protagonisten authentisch und roh einfängt.

Wenn unter den Hauptfiguren auch Perspektivlosigkeit herrscht, gelingt es Fien Troch hervorragend, dem Zuschauer eine Perspektive zu bieten: die Perspektive von außen nach innen; vom Kinositz aus in die Welt des Films; die Perspektive in ein wohlhabendes Milieu hinein. Es ist nicht immer einfach, einem derart chaotischen Film konzentriert zu folgen, doch umso immersiver wirkt er dadurch im Hinblick auf seinen chaotischen Inhalt und die chaotischen Lebenssituationen, die er porträtiert. HOME strotzt vor düsterer Authentizität und öffnet das Fenster in eine extreme Welt, die dennoch stellvertretend für die allgegenwärtige und zeitlose Hürde zwischen den Generationen steht.

von Benjamin Dogan