In alter Zeit kamen die Menschen ins nordfranzösische Provinznest Tonnerre, um zu sterben. Das Örtchen war für sein Hospiz bekannt, das später als Krankenhaus und Altenheim diente. Was davon bis heute blieb, sind alte Gemäuer, unterirdische Tunnel, Sehenswürdigkeiten für Touristen.

Die Frage, was Maxime (Vincent Macaigne), den Protagonisten von Guillaume Bracs Langspielfilmdebüt „Tonnerre“ in das verschlafene Örtchen treibt, ist nicht so einfach zu beantworten. Der jungen wie hübschen Lokaljournalistin Mélodie (Solène Rigot) erzählt der Musiker zunächst, er wolle neue Songs komponieren — Paris, seine Wahlheimat, sei zu laut und aggressiv. Im Nachsatz erklärt er, seine Platten würden zwar gut besprochen, aber selten gekauft.

Maximes Ansinnen nun, sich beim allein lebenden Vater (Bernard Menez) einzuquartieren, um zu arbeiten, klingt daher plausibel: Die winterliche Stille wird höchstens einmal vom Dröhnen eines Laubbläsers durchstoßen. Und doch hat der Mittdreißiger etwas im Gemüt, das auf weitere Gründe schließen lässt. Dies mag einerseits an der überzeugenden Darstellung von Vincent Macaigne liegen, der Maxime eine Melancholie verleiht, die jederzeit in Verzweiflung kippen könnte. Andererseits bedeutet „Tonnere“ ins Deutsche übersetzt: Donner. Und der Name des Films ist nicht zufällig gewählt.

In den Tagen nach dem Interview verlieben sich daher Maxime und Mélodie sogleich, mit schlechten Vorzeichen allerdings: Den ersten Kuss schenken sie sich in den dunklen Tiefen eines ehemaligen Gefängnisses, genau dort, wo die Insassen ihre Mahlzeiten ins Verlies gereicht bekamen; ein gemeinsamer Ausflug auf Langlaufskiern endet verfrüht mit einer symbolischen Szene, in der Maxime Mélodie durch den Wald hinter sich herzieht. Die Rasanz ihrer Leidenschaft wird schließlich von jeweils anderen Erwartungen und Ängsten gestört: Mélodie sagt, sie wolle sich von niemandem abhängig machen. Sie fürchtet, nur das Spielzeug eines Musikers in der Schaffenskrise zu werden.

Maxime hingegen berichtet von dem Loch, das der verblassende Ruhm in ihm hinterlässt und das anderweitig gefüllt werden will. Und dann wäre da noch Ivan (Jonas Bloquet), der großgewachsene, gutaussehende und erfolgreiche Fußballprofi, der nicht nur das Gegenteil von Maxime ist, sondern auch Mélodies Ex-Freund, von dem sie nicht loskommt. In der Folge erster kleiner Konflikte schlägt Maximes anfängliche Melancholie so in eine Obsession um, die mit der jugendlichen Unbedarftheit Mélodies nicht zusammen passen will. Das Züngeln eines Lagerfeuers verliert seine Romantik und wirkt nur noch bedrohlich.

Regisseur und Drehbuchautor Guillaume Brac führt den Zuschauer mit seinem stillen, aber stets intensiver werdenden Drama „Tonnerre“ nicht nur in die Provinz Burgund, wo der Chablis lieblich und die Menschen von rohem Humor sind, sondern auch an die Grenzen der Liebe — dorthin, wo Sehnsucht in besitzergreifendes Verhalten und Zuneigung in Gewalt münden kann. Alle Figuren, auch der Vater, der für Maxime einst ein schlechtes Vorbild war,  stellen sich eine unausgesprochene Frage: „Was bleibt?“

Die Beantwortung dieser Frage fällt wenig überraschend für alle anders aus. In Maximes Fall reicht womöglich ein Blick auf die alten Gemäuer von Tonnerre, der ebenfalls klärt, warum er überhaupt dorthin kam: Leben, sagt dieser Blick. Und Freiheit.