Zum dritten Mal begrüßte das Arc Filmfestival mit seiner familiären und warmherzigen Atmosphäre die weitgereiste, junge und internationale Filmemacherszene. Die Selektion war liebevoll zusammengestellt: Aus der besonders schön benannten Rubrik „Celebrating Diversity“, die als Statement nicht nur fürs Filmische, sondern auch für Gesellschaftliches stehen konnte, stellen wir hier kurz drei bemerkenswerte Filme aus dem Programm vor:

 

(1) „The Dérive“ von Tanin Torabi

Zu sehen: Mechanische Spielzeughunde. Alle stehen still. Nur einer läuft.

Die Kamera schwenkt herum und fährt durch eine Einkaufsstraße. Die Umgebung wirkt wie in einer Traumwelt. Fremde Gassen, eventuell eine Touristenzone? Ganz ruhig. Dann ein eindringlicher Ton. Eine Frau wird deutlich in dieser Menge von Menschen. Sie läuft ruhig zwischen ihnen und vor der Kamera her. Dann bleibt sie unvermittelt stehen. Hebt den Arm. Und beginnt in den beengten Schluchten zu tanzen.

Tanzen ist im Iran in der Öffentlichkeit sittenwidrig und verboten. Die Tanzperformance hier ist aber nicht gestellt oder inszeniert, sondern dokumentiert, wie die Menschen in der Umgebung reagieren. Es ist eine lange Plansequenz, eine Kamerafahrt, die einen mitnimmt und die einen die irritierten, verwunderten und entsetzten Blicke am eigenen Leib spüren lässt. Dazwischen schweben ihre sanften, zarten und poetischen Bewegungen, mit denen sie die Fremden berührt.

Dann beginnt sie zu rennen. Und sie stoppt genau unter der Kuppel einer Moschee. Ein Zoom direkt in ihr Gesicht, das nun offen in die Kamera zu dem Zuschauer blickt: dann tanzt sie entschlossen weiter, während das Bild der Kamera sich in der Unschärfe verliert. Die Geräusche der Menschen erscheinen erst jetzt. Wie in einem Traum ist der Moment vorbei und die Realität kehrt zurück. Aber es bleibt eine gradlinige und selbstbewusste Aussage der jungen Performancekünstlerin und Regisseurin.

 

(2) „Raheel“ von Ayat Asadi Rahbar

Die Abendstimmung eines Sonnenuntergangs. Eine junge Frau steht an einer Brücke. Aber sie beobachtet keine schöne Landschaft oder genießt die Atmosphäre. Sie steht über einer Autobahn. Nahaufnahme auf die Hand, die sich verzweifelt um das Geländer klammert.

Rückblick.

Ein Mann wechselt in seiner Wohnung die Windeln von seinem verletzten Sohn und verlässt dann das Haus. Das Geld ist knapp, also verdient er sich als Fahrer etwas dazu. Die junge Frau reicht ihm einen Zettel in das Auto: dort muss sie hin. Er erklärt ihr, dass es zu weit sei. Aber er nimmt sie ein Stück mit.

Er fragt sie aus und bleibt beharrlich, solange, bis sie ihm erzählt: ja, sie ist illegal aus Afghanistan im Iran. Ach, eigentlich sei das ja ein Nachbarland, beschwichtigt er. Und hier müsse sie keine Angst haben, Iran ist nicht Afghanistan. Hier ist es sicher! Er hält am nächsten Taxistand, doch sie weigert sich auszusteigen. Es ist dunkel, einsam gelegen und von einem Taxi ist weit und breit keine Spur. Sie öffnet ihre Tasche: er soll sich an Geld nehmen, was er bekommt. Er nimmt es sich und schaut zögernd auf sie. Und fährt sie dann doch weiter; immerhin bis zu einem Motel, wo sie bis zum Morgen warten soll. Doch für ein Zimmer bräuchte sie einen Ausweis und den hat sie nicht.

Der Mann von dem Motel möchte mit illegalen Dingen zwar nichts zu tun haben. Aber: sie ist eine Frau. Er begutachtet sie. Dann gibt er ihr sein Zimmer. Natürlich ist sie hier sicher, bekräftigt er dem misstrauischen Fahrer. Er werde sich persönlich um ihre Sicherheit kümmern! So fährt dieser, mit der eindrücklichen Mahnung an sie, die Tür unbedingt abzuschließen, davon. Sie hat Angst. Schnell wird immer klarer, was der Mann will. „Zieh dich aus, setz dich zu mir auf das Bett.“ Sie versucht ihn hinaus zu befehlen und fordert einen Schlüssel. Sie will die Tür abschließen. Da schlägt er die Tür zu, aber von innen. Man hört nur Schläge und Schreie.

Szenenwechsel.

Der Fahrer tankt. Mittlerweile ist es komplett dunkel und er wirkt nachdenklich. Dann bemerkt er ihren Zettel auf dem Beifahrersitz, den sie hat liegen lassen. Eilig fährt er jetzt zurück. Sie hat sich mittlerweile aus dem Zimmer hinausgekämpft und läuft am Wegrand auf das Auto zu. Ihr Peiniger lässt erst von ihr ab, als er den Fahrer wiedererkennt und flüchtet.

Wütend und mit Schuldgefühlen nimmt der Mann die junge, verängstigte Frau nun mit zu sich nach Hause. Dort angekommen, fällt unvermutet eine Katze von oben auf sein Auto und sie erschrickt – genauso wie das Publikum, denn man muss unwillkürlich wieder an die Anfangssequenz mit der Autobahnbrücke denken. Katzen sind im Islam sehr angesehene Tiere, sie übernehmen in ihrer Symbolik oft die Funktion von Beschützern, die vor Gefahren bewahren. Die Katze fällt auf ihre Füße und läuft weiter. Im sicheren Haus versteht sich die Frau sofort mit dem Sohn und unterhält sich einfühlsam mit ihm, während der Vater aufgeregt herumläuft. Dann blickt er wieder nachdenklich zu ihr.

Am nächsten Morgen fährt er sie weiter. Zu ihrem Ziel: zu der Adresse auf ihrem Zettel, wo ihr Mann auf einer Baustelle arbeitet. Sie kam extra für ihn den weiten Weg aus Afghanistan. Doch er ist nicht erfreut. Die Stimmung heizt sich auf. Er befiehlt ihr, in ein Motel zu gehen und dort auf ihn zu warten. Sie will nicht, aus verständlichen Gründen, von denen er jedoch nichts ahnt, denn er fragt sie nicht. Anstatt dessen schlägt er sie, weil sie ihm nicht gehorcht. Ihre Reise war umsonst, denn man erfährt: in seinem Zuhause wohnt mittlerweile eine andere Frau.

Schnitt.

Und nun stehen wir wieder mit ihr auf der Autobahnbrücke und ihre Hände klammern sich an das Geländer, als ob sie auch hier verzweifelt einen Halt suchen würde. Der Film schafft eine Nähe und Verbundenheit, dass man als Zuschauer mit ihr jetzt so weit mitempfindet, um ihr nach der beschwerlichen Reise, ihren Sorgen und dem ganzen Kummer ein kleines bisschen Glück zu wünschen. Und man verbleibt mit der Hoffnung, dass sich aus der Not heraus, aus Solidarität und entstehendem Zusammenhalt vielleicht eine Lebensgemeinschaft ergibt: denn mit der einsetzenden Musik des Abspanns hört man das Geräusch einer Hupe. Der Film hinterlässt einen mit einem Gefühl, dass man die Qualitäten und die Bemühungen des Anderen viel mehr Wert schätzen sollte.

 

(3) „Are you vollyball?!“ von Mohammad Bakhsahi

Und nun: ein Aufstand an einer Grenze.

Zwei Seiten; dazwischen ein Stacheldrahtzaun. Strenge Grenzkontrolleure, über die die Erwachsenen, die diesen nicht passieren dürfen, heftig diskutieren. Dass sie vor die UN gehen würden. Dass die Verhältnisse hier im Lager menschenunwürdig seien! Das beeindruckt die Soldaten überhaupt nicht. Eine angespannte Stimmung herrscht.

Ein Mädchen weint, weil ihre Eltern erschossen wurden. Ihr Bruder, der ein Fußballtrikot trägt, versucht sie zu trösten. Schnell kommen andere Kinder hinzu. Sein Trikot bietet Ablenkung: Argentinien, die Nummer 10, Maradona… die Kinder sprechen die gleiche Sprache. Ein Junge will den beiden eine besondere Freude bereiten. Er hat einen Fußball versteckt und kramt ihn stolz hervor. Und kurz darauf sind die Kinder einfach nur Kinder und rennen durch das Lager. Die traurige, angespannte Stimmung wandelt sich um in Energie und zieht nach und nach auch die Erwachsenen in das Spiel mit hinein.

Und natürlich passiert das, was man als Zuschauer schon erahnt: der Ball fliegt über die Grenze.

Kurzer erschrockener Stillstand. Als der Grenzsoldat ihn gnädig mit den Händen zurückwirft, fängt der Junge mit dem Trikot ihn im Flug mit der Hand ab und das wertvolle Leder fliegt wieder zu dem Soldaten. „Das war die Hand von Maradona!“, jubelt der Junge. Doch das lässt der Soldat nicht auf sich sitzen und wirft sich in den Staub. Der Ball fliegt wieder zurück. Wer hat hier das Sagen, signalisiert sein Blick.

„Wie heißt auf Englisch: Bist du ein Volleyballspieler?“, will einer der Erwachsenen von vorhin wissen und der Junge streicht sich unsicher über den Kopf. „Are you volleyball?!“ Auffordernd nimmt der Mann sich den Ball und mit diesen Worten reckt er diesen dem Soldaten entgegen. Jetzt ist der Bann endgültig gebrochen und es werden auf beiden Seiten Mannschaften zusammengestellt. Das aggressive Gewaltspiel löst sich in ein spielerisches Machtspiel. Irgendwann meldet sich der Soldat am Aussichtsturm. Er fungiert als Schiedsrichter. Es darf gejubelt werden, denn die Soldaten liegen zurück. Die Kinder lachen. Die Erwachsenen feiern.

Da kündigt sich in der Abenddämmerung der Kommandant des Lagers an und eilig legen die Soldaten wieder ihre abgelegten Uniformen an. Das Spiel: es ist vorbei. Unsichere Blicke. Begegnet man den Gegnern nun als Freunde oder Feinde? Doch zum Abschied werden noch einmal die Hände durch den Zaun gereicht. Der Junge und der Grenzsoldat: die Finger berühren sich wie in Michelangelos berühmten Fresko. Nur mit einem Grenzzaun dazwischen. Zeitgemäß.

Selten schafft es ein Film mit dieser Thematik, so einfach und klar den Unterschied zwischen Nähe und Distanz samt Überwindung letzterer darzustellen. Der Film hat einen konzentrierten Fokus auf das Menschliche und die Gemeinsamkeiten, die uns verbinden sollten, ohne dabei zu sentimental oder banal zu wirken. Er ist zu Recht der Gewinner von unzähligen Preisen im Iran, in Spanien, Italien, der Türkei und vielen weiteren Ländern. Er trifft die Stimmung der Gesellschaft.

Und man nickt zufrieden.

Diese drei Filme zeigen schön, an die Substanz gehend, was es heißt, ein Teil von diesen Ländern, diesen Kulturen und in dieser Zeit geboren zu sein. Sie vermitteln keinen oberflächlichen Eindruck, wie viele andere, die sich auf die gleichen Thematiken stürzen, weil diese gerade eben zeitgemäß sind und ein interessiertes Publikum finden. Sie finden es, weil sie mit ihrer Menschlichkeit berühren und mit ihrer Erzählqualität glänzen. Die Sensibilität, im aufeinander Zugehen und im Miteinander ein gemeinsames Verständnis zu finden, das alle integriert und berührt. Isolation und Abgrenzungen sind einfach, aber ein grenzenloses Denken, das alle einschließt, erfordert Reflexion und Einfühlungsvermögen. Miteinander arbeiten, voneinander lernen.

Eine von vielen wunderbaren Zusammenstellungen der Festivalleitung, um grundlegende menschliche Gefühle zum Ausdruck bringen. In jeder der einzelnen Selektionen, durch alle Nationalitäten hindurch. Die Inhalte sind auch in den jeweiligen, sich anschließenden Gesprächen mit den Filmemachern zu spüren und man wünscht sich dieses Selbstverständnis von Offenheit im Umgang mit anderen an viel mehr Stellen in der heutigen Gesellschaft.