Etwa in der Mitte von Tristia, Stanislaw Muchas Film über die Länder rund um das Schwarze Meer, findet sich eine Einstellung, die zwei junge Frauen mit einem weißen Fensterrahmen am Strand zeigt. Sie halten den Fensterrahmen, in dem die Scheibe fehlt, vor sich, schauen frontal in die Kamera und verharren einige Augenblicke in dieser Position. Hinter ihnen erstreckt sich das Schwarze Meer. Das Bild hat etwas von einem romantischen Gemälde, jedoch einem romantischen Gemälde im Pop-Gewand – ein wenig schräg, ein wenig schrill und mit einem gewissen Augenzwinkern.

Die Einstellung mit dem Fensterrahmen ist symptomatisch für die Konzeption des gesamten Films, finden sich doch Einstellungen, in denen Strandbesucher vor der Kulisse des Schwarzen Meeres posieren und ins Auge der Kamera blickend einige Sekunden verharren, an vielen Stellen. Diese Bilder schaffen ein Kontinuum zwischen den Einblicken in die einzelnen Länder und geben dem Gesamtfilm einen Rahmen. Es sind diese prägnant gestalteten Szenen, die deutlich machen, das Muchas Reisebericht mehr ist als eine konventionelle Dokumentarerzählung.

Ukraine, Krim, Russland, Abchasien, Georgien, Türkei, Bulgarien und Rumänien lauten die Stationen des Films. Der Zerfall der Sowjetunion und die kriegerischen und gesellschaftlichen Umwälzungen, die damit einhergingen, sind da erwartungsgemäß natürlich allgegenwärtig. So rosten gestrandete Kriegsschiffe vor sich hin und Denkmäler erinnern an die geschlagenen Schlachten.

Aber auch in den Interviews, die Mucha in einer eigenwillig direkten und unterhaltsamen Weise mit den Menschen vor Ort führt, ist die jüngste Geschichte präsent. Jeder berichtet von den historischen Einschnitten auf seine Weise und aus seiner Sicht. Auch wenn sie heute in verschiedenen Ländern leben, eint die Menschen doch die gemeinsame Vergangenheit und ebenso die latente Ungewissheit über das Hier und Jetzt, die im Subtext der geführten Interviews stets mitschwingt. Vielfach kann man ein Schwanken zwischen einem übertrieben vorgebrachten Nationalgefühl und einer großen Skepsis gegenüber den bestehenden Verhältnissen beobachten. Man könnte hier von einer tiefgreifenden, flächendeckenden Identitätskrise vor allem der Postsowjetrepubliken sprechen.

Muchas Film verhandelt aber nicht nur die großen, bei einem Dokumentarfilm über den ehemaligen Ostblock naheliegenden Themen. Es sind die kleinen Leute, denen Muchas Aufmerksamkeit gilt. Es ist ihr Alltag, für den er sich interessiert, das ganz normale Leben. Dieses mutet, zumindest in den Augen westlicher Zuschauer, mitunter skurril und auch komisch an. So nimmt uns Mucha mit auf einen Straßenmarkt, auf dem neben Lebensmitteln, Hunden und allem möglichen Krimskrams auch Kalaschnikows angeboten werden, und zwar von einem jungen Mädchen. Ebenfalls gewöhnungsbedürftig erscheint das Treiben im russischen Ferienlager, auf dem zwei Jungen vor der versammelten Kinderschaar zu HipHop-Beats patriotische Reime rappen.

Muchas große Könnerschaft besteht darin, in den alltäglichen Szenen nach ebendiesen Bildern zu suchen, die das Skurrile und Komische herausstellen und auch eine poetische Qualität haben.

Muchas Schwarzmeer-Odyssee, so der Untertitel seines Films, endet in Rumänien. Dorthin war Ovid verbannt worden, der röimsche Dichter der Tristien, der Klagelieder, nach denen Mucha seinen Film benannt hat. Was den alten Ovid mit den Menschen in den heutigen Schwarzmeerländern verbindet, ist das Gefühl einer fundamentalen Entfremdung. In beiden Fällen ist es ein Setting nach dem großen Knall, nach der tiefen Erschütterung.

Doch auch wenn die Verunsicherung im Film stets latent vorhanden ist, schreiben die Menschen, die Mucha uns zeigt, keine Klagelieder. Sie sind eher von einem erfrischenden Pragmatismus getrieben, von der Überzeugung, dass es schon irgendwie geht. Als Mucha in Abchasien eine alleinstehende Frau auf die Hochzeit eines befreundeten Paares begleitet und sie während der Autofahrt fragt, was für einen Mann sie sich denn selbst wünsche, verzichtet sie auf die üblichen großen, nichtssagenden Floskeln. Nur gut gegenüber Frauen müsse er sein, sagt sie da. Und hübscher als ein Affe.

(Festivalkritik im Rahmen des LICHTER Filmfest 2015)