Wahnsinn, der kann laut und schrill oder aber auch leise und trübsinnig sein: Ein lebensmüder Busfahrer am Rande des Burnouts zum Beispiel oder die vom trostlosen Alltag gebeutelte Ehefrau, die sich von ihrem Ehemann ungeliebt fühlt, vielleicht auch die halbtrockene Alkoholikern, die um das Sorgerecht für ihr Kind kämpft. Auf all diese Menschen hält Raymond Depardon (SAN CLEMENTE, 12 JOURS) in seinem Dokumentarfilm URGENCES die Kamera drauf und beim Zuschauen wird einem schnell klar: der Wahnsinn hat immer einen Fuß im Alltag und den anderen schon im bizarren Tabu, dass nur unter Verschluss zum Besprechen bereit ist.

Gerade schien von Außen noch alles gut zu sein und plötzlich: das Blaulicht des Notarztwagens, jemand gleitet auf einer Liege in die Notaufnahme, grelle Lichter, Menschenmengen und der monotone Blick des Psychiaters, der stets mit Stift und Block bewaffnet, die Krankengeschichte der neu Eingelieferten notiert. Das alles klingt nervenaufreibend , aber Depardon versteht hier die stillen Momente der Psychiatrie aufzugreifen, unaufgeregt und typisch für den Stil des Direct Cinema sind die Szenen, die er in seinem Dokumentarfilm festhält. Nicht in das Geschehen eingreifen, als Beobachter möglichst gar nicht vorhanden sein, die Szenen aber realitätsnah wiedergeben: das war damals in den 1960ern goldenes Gebot der Bewegung, die von den US-Dokumentarfilmern Robert Drew, Richard Leacock, D.A. Pennebaker und Albert Maysles, später auch von dem deutschen Klaus Wildenhahn, geprägt wurden. Und Depardons Glaube an diese eine wahre Realität in dieser Psychiatrie ist unerschütterlich. Er zeigt sie wie eine geschlossene Welt, so als ob es ein Draußen gar nicht gebe, so als ob die Stadt Paris nur aus dieser Anstalt und ihre Mauern bestünde.

Gut gemachtes Direct Cinema ist allerdings auch vom Vertrauen gezeichnet, dass die Protagonisten den Filmenden entgegenbringen. Das klappt aber nicht immer so glatt, wie man es sich wünschen würde. „Piss of with your cinema!“, schreit in einer Szene eine wütende Frauenstimme der Kamera entgegen, „I want to see Dr. Grivois“. Die Frau, die noch eine Szene zuvor unauffällig im Gesprächszimmer des Arztes saß und ihr Kind auf dem Schoss hielt, ist vollkommen außer sich. Betrunken fordert sie ihr Kind ein, dass der Schwägerin zur Obhut übergeben wurde. Es sind die zwei kontrastierenden Schlüsselszenen, die beim Zuschauen fast überfordernd wirken, weil sie im Verhältnis zu den vorherigen, nahezu statischen Arzt- und Patientengesprächen, so unausweichlich und schamerfüllt diesem Film Leben einhauchen. Unweigerlich stellt sich die Frage, ob Depardons bisher gezeigten Gesprächszimmermomente nicht viel zu distanziert und affektlos eine Patientenrealität abbilden, deren ganz eigene Wirklichkeit irgendwo im Verborgenen wittert, die aber der Regisseur – trotz jeder Mühe – nicht  geschafft hat, vor die Kamera zu holen.

Direct Cinema impliziert Realitätsnähe, doch ihr Glaube an diese Nähe kann letztendlich nur Illusion sein. Aber prinzipiell schlimm ist das nicht.„Ein Film, der sich zur Aufgabe gemacht hat, die Realität wiederzugeben, gibt seine eigene Realität auf“, pflegte Hans Hurch zu sagen. Dem verstorbenen Wiener Festivaldirektor zu Ehren galt die VIENNALE 2017, in der URGENCY, in der Kategorie DOKUMENTARFILM, sehenswerterweise gezeigt wurde.

 

Gesehen auf der 55. VIENNALE in Wien.