MUTTER, MUTTER, VATER, KIND
Mutter, Vater, Bruder und Schwester. Das was gemeinhin – jedenfalls im sogenannten Westen – als klassisches Familienmodell aufgefasst wird, malt die kleine Aida als ihre Familie mit Wachsmalstiften auf. Kurz darauf wird ihre Sicht auf die Welt plötzlich erschüttert, als ihr Vater bei seiner Rückkehr aus dem Senegal eine fremde Frau mitsamt Säugling in die Wohnung der Familie bringt. Als er der Familie eröffnet, dass beide von nun an mit ihnen leben werden, scheint sich die beengte Wohnung in zwei Welten aufzuteilen: eine, die den Normen ihrer Pariser Umwelt zu entsprechen scheint – und eine, die nach den für Aida unbekannten Regeln des Herkunftslandes ihrer Eltern funktioniert. Regisseurin und Autorin Maïmouna Doucouré verdeutlicht dabei in diesem Kammerspiel nicht nur beeindruckend wertfrei die Komplexität von Polygamie, sondern auch einen Generationenkonflikt, in dem jede*r einzelne Akteur*in auf engstem Raum seinen oder ihren Platz zu finden versucht.

Julia Willms

MUTTERSCHUTZ MAL ZWEI

Gibt man Polygamie in Wikipedia ein, erscheint am rechten Bildrand eine Landkarte, die viele grün eingefärbte Bereiche Nord-, Mittel- und Westafrikas an unsere Netzhaut schnellen lässt. Am westlichen Rand: der Senegal, das Land, aus dem Aidas Eltern stammen. Von dort aus sind es ungefähr 4.000km nordöstlich bis man das Banlieu in Paris erreicht, in dem das kleine Mädchen mit ihrer Mutter und ihrem Bruder wohnt. Auf den Kopf gestellt wird ihre Welt, als Papa Alioune aus genau diesem Land mit einer “neuen Mama“ durch die Haustür tritt. Mit dabei: ein kleines Stiefgeschwisterchen.

Ausgezeichnet beim Sundance Filmfestival (Kurzfilmjurypreis) und dem Toronto International Film Festival (bester Kurzfilm), erzählt und inszeniert Debüt-Regisseurin Maïmouna Doucouré ihr kleines Familiendrama äußerst feinfühlig. Sie benötigt für einen Film über ein kompliziertes Sujet keinen Brandbeschleuniger, sondern erhitzt die Lage einer französischen Vorstadtfamilie lieber sanft und nachhaltig. Die zu Beginn so warmherzige Aida beginnt nach und nach zu brodeln, steht sie doch zwischen allen Familienfronten. Nur mit ihrer Mutter mag sie schließlich noch weinen. Und nachdem die neue Raumverteilung des Vaters endgültig für Zündstoff sorgt, kann sich das Kind nicht mehr zurückhalten – Aida muss etwas ändern und beschließt, beim schwächsten Glied der Kette zu beginnen…

Zweimal noch steigt Rauch über der Kerze in ihrem Zimmer auf. Resignation oder Vergebung? Grün kann eben auch die Farbe der Hoffnung sein.

Martin Henkelmann

Zu sehen als Teil der der INTERNATIONAL SHORTS I beim 9. LICHTER Filmfest Frankfurt International