Hans Uwe (Levin Liam) ist kein Kind mehr, Jugendlicher oder Erwachsener aber auch noch nicht. Seine Züge sind ernst, die Strapazen des zweiten Weltkriegs und dessen Folgen stehen ihm ins verdreckte, von Schrammen überzogene Gesicht geschrieben. Um ihn herum zwitschern Vögel und zirpen die Grillen, der Wind streicht leise durchs sommergrüne Gras, über den Himmel fliehen gewaltige Quellwolken.

Mit seinem Bruder Fritz, der noch keine zehn Jahre alt ist, aber selbstgedrehte Zigaretten raucht, beobachtet er irgendwo in der ostpreußischen Provinz ein Bahnhofsgebäude. Dieses steht, wie alles östlich Berlins, im Jahre 1946 unter Besatzung der roten Armee. Fritz zeigt nun, wie pragmatisch und furchtlos er schon in diesen jungen Jahren ist und klaut den russischen Soldaten am helllichten Tag ein Pferd. Die Brüder führen das Pferd in eine verwahrloste und entweihte Kirche, Fritz streicht dem Tier über den Kopf, dann knallt es: ein Wiehern, ein Fall, eine Erschütterung.

Die Eröffnungssequenz von Rick Ostermanns „Wolfskinder“ macht die grimmige Atmosphäre klar, welche auch den Rest dieses Debütspielfilms beherrscht: wenige Worte, strenge, hungrige, traumatisierte Blicke, gnadenlose, weil zumeist lebensnotwendige Handlungen. Dies alles in den tiefen Wäldern und weiten Landschaften zwischen Ostpreußen und Litauen, wohin es diese Wolfskinder zieht, weil sie Eltern und Verwandtschaft, Heimat und Lebensperspektive verloren haben. Auf dem Weg dorthin essen sie, was sie zu fassen kriegen, auch das rohe Fleisch eines Rebhuhns — wie wilde Tiere, wie Wölfe.

Neben Hans und Fritz, die schon bald von wildem Gewehrfeuer getrennt werden, streift in Ostermanns Film ein halbes Dutzend weiterer Kinder über diesen verzweigten, beinahe überwucherten Trampelpfad der deutschen Geschichte: Wolfskinder sind keine Erfindung Ostermanns. Tausende Waisen, die nach Kriegsende aus den sowjetisch besetzten Gebieten zumeist nach Litauen flohen, um der Rache der roten Armee zu entkommen und sich bei dort lebenden Bauernfamilien sichere Schlafplätze und ausreichende Mahlzeiten zu verdienen, teilten dieses Schicksal. Viele blieben Analphabeten, wenige dürften von der Erfahrung je losgekommen sein.

Im öffentlichen Fokus standen sie nie, weshalb Ostermanns Anliegen, ohne große Sentimentalität von der Realität der Wolfskinder zu erzählen, ein zwar ehrenwertes und erfreuliches ist. Leider jedoch wirkt der Plot, die rastlose Reise dieser Karawane verlorener Kinder, allzu oft vorhersehbar — so als würden die in Wald, Feld, Moor oder Fluss möglichen Situationen und Gefahren durch knurrige Bauern, schießwütige Soldaten und lüsterne Partisanen schlicht nacheinander abgehakt.

Wirklich intime Szenen zwischen den Figuren sind zu selten, was natürlich der Konstruktion jener eingangs beschriebenen Atmosphäre geschuldet ist, die durchaus zu fesseln vermag. Die Empathie des Zuschauers allerdings findet keinen Weg durchs Dickicht der baltischen Wälder. Dies nicht zuletzt, weil es einen zwiespältigen Beigeschmack hat, Deutsche als reine Weltkriegsopfer zu sehen, obwohl es sich im Fall der Wolfskinder so zugetragen haben mag. Die Mahnung der sterbenden Mutter, Hans und Fritz sollten nie vergessen, woher sie kommen und wer sie sind — Deutsche nämlich, Nazisprosse womöglich, keine Litauer oder Russen jedenfalls — kann nämlich durchaus anders verstanden werden, als vermutlich gewollt: seine Identität zu behalten, auch wenn man einen anderen Namen annehmen muss, um in der Nachkriegswelt zu überleben. Es bleibt schließlich die Frage offen, ob Ostermanns Blick in die Vergangenheit nicht allzu einfach ist und die Greuel der Naziherrschaft verharmlost, wie es manchem Film oder Buch oder politischer Äußerung zur Debatte um vertriebene Deutsche zuletzt vorgeworfen wurde — auch wenn es sich bei den Wolfskindern um sozusagen „doppelte Opfer“ handelt: Opfer der elterlichen Nazi-Ideologie und Kriegsverbrechen, Opfer der sowjetischen Rache.

Ähnlich ambivalent verhält es sich mit der zehrenden Stille der Figuren: Die Sprachlosigkeit stellt wie die harten Blicke das Trauma aus, deutet an, dass die Kinder sich nicht als Deutsche verraten dürfen und lässt so die Schwere ihres Schicksals zu einem kaum tragbaren, mit der Kinderseele jedoch verwachsenen Schatten werden. Letztlich schützt die Stille aber auch dramaturgisch vor weiteren hölzernen Drehbuchsätzen.

Ästhetisch und atmosphärisch hingegen kann „Wolfskinder“ auf ganzer Linie überzeugen. Die Mischung aus weitwinkligen Landschaftsgemälden, stillen Nahaufnahmen, suggestiver Natur-Beobachtung und regsamer Beweglichkeit von Leah Strikers Kamera ist die wohl größte Stärke des Films. In sepiagefärbten Bildern zeigt Striker die Schönheit und Grausamkeit der Wälder, die zum Schauplatz dieses historischen Spießrutenlaufs jener Kinder werden, denen man weit mehr als ihre bloße Kindheit raubte.