Mit einem gewissen Vorwissen über Alexander Kluge und in Erwartung auf Khvan habe ich feine Vermutungen und eine grobe Richtung: Vergangenheit wird auf Gegenwart treffen. Alt auf jung. Intellekt auf Rock-Oper. So setze ich mich also an diesem Abend vor „Orphea“.

Der Film startet überraschend gefällig: gezeichnete Augen und Augenhöhlen von Skeletten. Eine lebendige, junge Frau, die in einem Hochzeitskleid am Strand spazieren geht, und danach wie eine blutende Venus aus der Muschel schlüpft. Sie und ihr Geliebter umkreisen glücklich die Natur, wie der kleine Prinz, der seinen noch kleineren Planeten umrundet. Das Sternbild des Nilpferdes. Mo-moment, was?

Manche assoziativen Text-Einblendungen und Schnitte irritieren mich schon nach den ersten fünf Minuten, doch Alexander Kluge lässt mich nicht zur Ruhe kommen. Der 80-Jährige legt der 30-jährigen Hauptdarstellerin, seiner Orphea, seiner Sendbotin in die Unterwelt, Worte in den Mund und je länger die beiden reden, desto weniger deckungsgleich stimmt die Synchronisation überein. Nachdem er ihr erlaubt „sich sorglos umzusehen, nachdem der Mann ja beschützend vorangeschritten ist“, blickt diese irritiert aus dem Bild. In einer Interviewsituation klagt sie ihm dann ihr ganzes Leid und ich kann mein persönliches Wissen über Schlangenbisse enorm erweitern. Assoziativ vermute ich, dass es bestimmt ihr Liebster war, der daran gestorben ist. Mit ihrem Gesang jedenfalls, betäubt Orphea alles: die Natur, die Pflanzen, die Tiere und natürlich die Menschen – gegebenenfalls auch sich selbst und so manchen Zuschauer. Aber eigentlich singt sie nur, um ihn wiederzubeleben. Dieses Ritual scheint jedoch nicht so einfach zu sein: Man muss sich erst einmal mit dem Universum auseinandersetzen, danach kommen ziemlich viele mathematische Formeln, ein bisschen Medizin und der Matrix-Effekt. Russische Uniformen spielen natürlich auch eine Rolle. Zumindest kommen wir jetzt auch tatsächlich in die Unterwelt.

Ein Fragezeichen sucht seine Geschichte

Das schreit schon förmlich nach Khvan. Und tatsächlich: harte Bässe, Sirenen, Tänze von nackten Dämonen und Monstern. Ein visuelles Fallenlassen im farbenprächtigen Rausch, solange bis die Handlung dann doch wieder Aufmerksamkeit erfordert. Wir sind in einem russischen Bordell? Ein Huhn wird am Schritt gerieben? Anscheinende Beschwörungsrituale bei denen Menschen zu Puppen und – bei anderen Klängen, dann – von Puppen wieder zu Menschen verwandelt werden. Dazwischen erscheint immer wieder eine Schreibschrift auf der Leinwand in Filipino, welche aber leider nicht übersetzt wurde. (Ich bemühe hier zähneknirschend die Sprach-Recherche und nicht nur an dieser Stelle. Es lohnt sich jedoch, und ich bedauere es sehr, dass diese Fragmente nicht sofort für alle verständlich sind, denn: irgendwo hier wird selbstsüchtig ein Geheimnis erleuchtet! Also dafür hätte ich gerne das Huhn geopfert.)

Immer mehr vermischen sich die unterschiedlichen Darstellungsformen der beiden Regisseure sowie die Darstellung zwischen Realität und Inszenierung. Orphea kriecht durch einen schmalen Schacht in die Unterwelt hinein, wo sie nach wilden Kämpfen selbst als ein böser Geist erkannt und ausgetrieben, das heißt, aus dem Fenster geworfen, wird. Khavn persönlich sitzt in einer Bibliothek am Klavier, wo die junge Frau danach, immer noch im Leid gefangen, mit den Büchern als Auditorium, weitersingt. Nein, eure Schuld ist das alles nicht! Eure nicht. Ich fühle mich kurz seltsam berührt und finde hier meinen persönlichen, kleinen Lieblingsmoment. Doch ewig fließt das Wasser. Zeit vergeht. Bevor ich mich darüber wirklich erfreuen kann, lässt mich der darauf folgende Schluss dann doch wieder verwirrt zurück.

Ein eigensinniger Fluss des Vergessens

Als Fazit kann ich für diese Essay-Collage sagen, dass mich nicht nur der mittelmäßig inszenierte Greenscreen-Effekt an vielen Stellen des Films sofort schaudernd und doch liebevoll an „Das melancholische Mädchen“ von Susanne Heinrichs hat denken lassen. Dieser Film hier ist nur irgendwie etwas weniger… ich weiß auch nicht… weniger inhaltsreich ist er zumindest nicht. Alexander Kluge bleibt immer noch stark dem modernistischen Geist von Oberhausen verbunden und das sieht und spürt man auch. Dazu bringen Khavns Einflüsse herrlich neue Elemente und Assoziationen, wenn auch nur begrenzt auf die Unterwelt, hinein, die das Ganze aber trotzdem irgendwie erfrischend lebendig und auch wesentlich verdaulicher machen. Beide verbindet auf jeden Fall die Liebe zur Sprache und bedingt durch meinen philologischen Studiengang bin ich verstört und entzückt gleichzeitig. Mein Liebster, du kannst dich freuen: von nun an suche ich deine Liebe zu meinen Kakerlaken! Salamat sa iyo.