Wolfskinder sind immer hungrig. Fahlwangig, auf ihren Zungen die Sehnsucht nach ein paar letzten Krümeln, fünf, sechs Beeren am Wegesrand, zur Not auch Fröschen und Grashüpfern.

Wolfskinder reden nicht. Wenn sie sich treffen, fragen sie nicht woher sie kommen, sondern wohin sie wollen. Ihr Leid findet keinen Weg mehr in ihre Worte.

Wolfskinder gab es wirklich. Sie selbst haben sich so benannt, weil sie in ihren kleinen Gruppen wie ein Rudel Wölfe rastlos durch die Wälder Litauens streiften.

 1945 blieben fast nur noch Frauen und Kinder im nördlichen Teil Ostpreußens zurück, Brüder, Väter, Vorbilder und Beschützer sind im Krieg gefallen. Die Rote Armee nähert sich, und wo sie ist, können die Übriggebliebenen nicht bleiben.

Hans Uwe Arendt und Fritz Ludger Arendt haben sich mit ihrer Mutter in eine Mühle zurückgezogen. Einem gestohlenem Pferd haben sie erst sanft die Blesse gestreichelt, bevor sie es erschossen haben, um je zwei Hände voll zur Mutter zu tragen. Die hat aber schon keinen Hunger mehr, nur noch einmal die wunderschönen Namen ihrer Söhne möchte sie hören. Von Hans, dem älteren, lässt sie sich versprechen, dass er seinen kleinen Bruder zu einem Hof in Litauen bringt, auf dem man gut zu ihnen sein wird. Ihnen zu essen gibt. Das Amulett aus ihrer schwachen Hand wiegt schwer um seinen Nacken.

Am nächsten Morgen ist es jedoch der Jüngere, der sagt: „Hans, wach auf. Mama ist tot.“

 Man kann der Anfangssequenz nicht entfliehen. Man wird gepackt und umgerissen. Die beeindruckende Leistung der beiden Kinderdarsteller Levin Liam und Patrick Lorenczat, beide zum ersten mal vor der Kamera, schafft es, uns einen kleinen Blick in die Hölle werfen zu lassen, durch die die Wolfskinder damals gehen mussten.

An manchen Stellen wirkt der Plot ein bisschen konstruiert, ein bisschen schnell wird Hans, der mit einer Verbündeten um das Leben seines Bruders bangt ein weiteres Geschwisterpaar entgegengeworfen, ein bisschen zu pragmatisch zuvor deren tote Tante an das Ufer des Flusses gelegt. Die kargen Dialoge sind dann und wann ein bisschen hölzern. Die Stärken von Rick Ostermanns Spielfilmdebüt liegen eindeutig im Atmosphärischen, in den Bildern. Manchmal sind sie grausam gelassen, manchmal erbebt die Kamera wie ein ängstliches Kinderherz.

 Lange bleiben sie nicht zusammen, sie kommen und gehen. Manchmal wird einer von der Gruppe getrennt, manchmal sogar ein Gruppenmitglied eingetauscht, zu seinem eigenen Besten, gegen ein paar Äpfel. Wird doch nochmal eines gezähmt, an einem der Höfe aufgenommen und mit einem eigenen Bett und einem neuem Hemd versorgt, vergisst es oft seine ehemalige Identität. Je jünger die Kinder waren, desto wahrscheinlicher haben sie ihren Namen vergessen, ihre Geschwister, nie aber ganz die Angst und den Hunger.

Die Natur bot ihnen eine zweite Heimat. Mitleidslos ließ sie viele sterben, doch bot sie manchen eine leise Hoffnung, für eine Weile. Zumindest im Sommer. Die litauische Landschaft zeigt keine Trümmer, keine Asche am Himmel. Felder wippen sanft im Wind, im Wald spielt die Sonne zwischen Birkenzweigen. Ostermanns Figuren sind im Inneren zerrüttet, ganz tief im Inneren. Sie weinen leise, wenn ihnen von dem wenigen, dass sie noch haben alles genommen wird. Einmal schreien sie kurz auf, wenn sie sich bis aufs Blut verteidigen und letztlich doch scheitern, dann müssen sie auch schon weiter, den nächsten Tag versuchen nicht zu verhungern.

Manche Wolfskinder können heute auf ein langes Leben zurückblicken. Ihre Wangen nicht mehr fahl, aber manchmal weinen sie wieder leise wenn sie von damals erzählen. Kinder wie Hans haben manchmal noch eine Sehnsucht auf der Zunge, nach dem, was sie verloren haben. Manchmal jedoch, haben sie auch schon keinen Hunger mehr.