Lasst uns nicht zu namenlosen Leichen werden, sagt ein Freund Abous im zweiten Drittel des Films. Das haben wir nicht zu entscheiden, antwortet Abou längst resigniert. Namenlose Leichen zu werden, das ist, neben der Rückkehr in die Heimat, die größte Angst auf dem Berg Gurugu, der sich direkt vor Marokkos Grenze zur spanischen Exklave Melilla befindet. Dort harren Menschen aus unterschiedlichen afrikanischen Staaten oft jahrelang aus, bis sie es über den dreifachen, teils mit Stacheldraht versehenen, Grenzzaun nach Spanien schaffen. Die Filmemacher Moritz Siebert und Estephan Wagner haben dem aus Mali stammenden Abou Bakar Sidibé eine Kamera gegeben, um seine Erlebnisse auf dem Berg festzuhalten. Zu diesem Zeitpunkt harrt Abou bereits seit dreizehn Monaten an der Grenze aus. Der junge Filmemacher dokumentiert seinen Alltag und das Hadern der Menschen an der Grenze, bevor er drei Monate später den Sprung nach Europa schafft.

Der Berg Gurugu wird von Abou zu einem mythischen Ort verklärt, auf dem man Angst hat, vor Dämonen und bösen Geistern, die sich in Gestalt der marokkanischen Polizei zeigen, aber auch zu einem Ort der Freundschaft und der Bruderschaft. Man erschrickt darüber das Wort zu benutzen, aber es ist ein magischer Ort. Und ein Ort der Widersprüche. Es ist ein Ort an dem scheinbar alles und nichts möglich ist. Ein Ort an dem die Männer nicht willkommen sind, doch wo sie selbst Hunde zu ihren Brüdern, ihren Schicksalsgenossen, machen. Ein Ort, der immer wieder dem Erdboden gleichgemacht wird, doch wo Gemeinden gegeneinander Fußballspiele austragen. Ein Ort der Unordnung, der aber auf Gesetzen und staatlichen Strukturen basiert. Ein Ort auf feindlichem Gebiet, an dem selbst ein Verräter verschont und mit Proviant versorgt wird, bevor man ihn ins Exil entsendet. 

Doch Abous Film ist nicht nur eine Geschichte über die Flucht, über Freundschaftsbande oder das Träumen von der Zukunft. Es ist auch eine Geschichte über das Filmemachen, über das Erblühen eines Künstlers. Einen der die Kamera hält, sie führt, Menschen zu Wort kommen lässt, dabei Emotionen transferiert und Haltung zeigt. Zuerst sei es ihm nur um das Geld gegangen, sagt Abou am Anfang des Films. Doch später waren es die Bilder selbst, die ihn vorangetrieben haben. Der Mond über dem ruhigen Meer oder der Ausblick vom Berg. Er wollte zeigen, dass sie, die Menschen von Berg Gurugu, auch wirklich Menschen sind, die leben, die nicht tot sind.

Indes spielt Abou auch mit seinem Verhältnis zur Kamera. Mal lässt er sich selbst in bestimmten Szenen inszenieren, mal übernimmt er die Rolle des Beobachters oder gar des Voyeurs. Als er sich zum ersten Mal beim Duschen filmen lässt, scheint der Kontrollverlust über die Kamera ihn noch zu verunsichern. Er weist seinen Freund an, lacht, weiß nicht wohin mit seinen Händen, sein Blick sieht an der Kamera vorbei. Doch Abou steht das durch, weil dieses Sujet wichtig für ihn ist. Er will zeigen, wie sie leben und wie das Waschen zu der täglichen Routine gehört.

Auch wenn Abou hinter der Kamera steht, bleibt er präsent. Er kommentiert, er spielt Musik aus seinem Handy ein, man hat bald das Gefühl ihn zu kennen. Er filmt seine Freunde beim Schlafen oder intimen Gesprächen. Man wird zu einem Teil der Freundschaftsrunde, während er mit seinen Freunden auf den Grenzzaun und das dahinterliegende Melilla schaut. In diesen kurzen Momenten schafft man es, die paternalistische Sichtweise auf die Flüchtenden abzulegen.

Am Ende seines letzten Laufs zum Grenzzaun richtet Abou die Kamera auf sich. Er schaut in das Objektiv, als würde er gerne in seinem Gesicht etwas festhalten. Es ist ein, seht her Moment, doch diese Aufnahme steht am Anfang des Films und man versteht es nicht gleich. Hast du Angst, fragt jemand im Hintergrund. Ja, sagt Abou, ich habe Angst. Doch diese Angst ist da für den Zuschauer bloß zu erahnen. Man hat etwas davon gehört, vielleicht etwas in den Nachrichten gesehen, aber man kann sie nicht greifen. Erst am Ende des Films, als Abou in der Dunkelheit, kurz vor dem Ansturm, die Kamera erneut auf sein Gesicht richtet, scheint man es zu verstehen. Das Bild braucht kein j’ai peur mehr, um die Angst spürbar zu machen, man hat sie mit ihm erlebt. Die Angst, das Elend, die Ausweglosigkeit der Situation sind längst in Abous Gesicht eingeschrieben worden.

Eine Frage bleibt dennoch am Ende des Films. Warum wird Abou getrennt von Siebert und Wagner bloß als Co-Regisseur aufgeführt? Aus dem gemeinsamen Interview lässt sich erschließen, dass er einen großen Teil der Ideen beigetragen und auch in der Postproduktion eine wichtige Rolle gespielt hat. Die Idee den Film aus der Perspektive der Betroffenen zu zeigen, ist unabdingbar und ein wichtiger Kontrast zum Berlinale-Gewinner „Fuocoammare“ von Gianfranco Rosi, der die Menschen auf der Flucht als anonyme Massen des Elends porträtiert. Die Entscheidung jedoch diesem Betroffenen im Abspann keinen gleichwertigen Platz neben einem selbst einzuräumen, lässt einen verwundert und sprachlos zurück. Man fragt sich, ob man nicht doch zu sehr mit der ethnographischen Ästhetik gespielt hat, ob man den Film nicht in eine bestimmte Richtung gebracht hat, die Abou so gar nicht darstellen wollte. Es ist nur ein Detail, aber eines, das nicht übersehen werden darf. Eines, das diskutiert werden muss.

Olga Galicka

Gesehen beim 9. LICHTER Filmfest Frankfurt International als Teil des internationalen Wettbewerbs zum Thema „Grenzen“.