Auf den ersten Blick könnte MEINE BRÜDER UND SCHWESTERN IM NORDEN ein Heimatfilm in bester Tradition sein – ginge es nicht um Nordkorea. Regisseurin Sung-Hyung Cho reist durch das Land und fragt nach, vorsichtig und ohne Nachdruck, aber doch immer hoffend auf eine Offenbarung, auf einen kurzen aufrichtigen Funken, auf ein Stück Authentizität. Sicher verschwinden diese Eindrücke mitunter zwischen den Zeilen und rücken bisweilen, durch die im Vorführungsraum präsente Propagandaangst, in den Hintergrund. Doch Cho selbst nimmt die nordkoreanischen Kontrollorgane, die ihren Dreh begleiten, gelassen. Lieber betrachtet sie unberührte Landschaften, die an ihre Kindheit erinnern, folgt den Menschen mit der Kamera, lässt sie in Gesprächen zu Wort kommen. Man spürt Heimweh oder zumindest eine gewisse Nostalgie in Chos Regiearbeit.

Regisseurin Sung-Hyung Cho, geboren in Südkorea, lebt seit über zwanzig Jahren in Deutschland. In ihrem neuen Film zeigt sie ihre vermeintlichen Brüder und Schwestern aus Nordkorea, einem Land, das sie vorher nur aus programmatischen Geschichtsbüchern ihres Geburtslandes kannte. Erst mit einem deutschen Pass wurde ihr das Filmprojekt ermöglicht, und so ist der Film gewissermaßen auch eine Geschichte über gleitende Nationalitäten und Zugehörigkeitsgefühl. Cho wollte in ihrem Film die Menschen in Nord Korea so porträtieren, „wie sie eben sind“, sagt sie im Publikumsgespräch nach der Premiere als Eröffnungsfilm beim LICHTER Filmfest Frankfurt International. Kritische Fragen zu stellen, das wäre für einen Menschen, der Nordkorea als Staat begreife, nicht nur anmaßend, sondern auch rücksichtslos ihren Protagonisten gegenüber gewesen.

Diese Haltung missfiel offensichtlich. Bei den meisten Festivals wurde Chos Film abgelehnt. Die Begründung, so im Gespräch angedeutet, ist die klare Linie des Films, das Gesagte seiner Protagonisten nicht zu kommentieren.

Ob es wirklich einen Kommentar gebraucht hätte, ist jedoch fraglich. Zu Beginn sind die Erzählungen der Menschen so überskizziert, dass man sie ohnehin kaum ernst nehmen kann. Da ist ein Schwimmbadmitarbeiter, der erklärt, dass der „große Führer“ selbst ein albern aussehendes Springbecken in einem Wasserpark Pjöngjangs mitgestaltet hätte, während ein Marshall nachts im gleichen Schwimmbad einen unterirdischen Kanal für eine umweltfreundliche Energiezufuhr gegraben habe. Oder ein Bauer, der mit Stolz und beinahe kindlicher Freude, einen großen Anteil seiner Reisernte an den Staat abgibt, weil das Nordkorea vor Angriffen der imperialistischen Kräfte beschützen werde. Da ist ein Fußballinternat, in dem sich die Schüler sogar abends in ihrem Zimmer mit der Englischlehrerin treffen, um zusammen Lieder über den Führer zu singen. All das ist bisweilen absurd und unfreiwillig komisch, doch spätestens beim fünften Mal, bei dem behauptet wird, dass der Führer Kim Jong-un oder ein „General“ für dieses oder jenes alltägliches Ereignis verantwortlich sind, bleibt einem das Lachen im Halse stecken.

Es bleibt unklar, ob die Menschen das, was sie sagen, ernst meinen oder nur vorgegeben bekommen haben. Aber man nimmt sich ihrer an, weil sie diese Dinge mit einer absurden Aufrichtigkeit erzählen. Diese vermeintliche Aufrichtigkeit mag schnell als Propaganda diffamiert werden, aber vielleicht sind diese Momente auch nicht die entscheidenden in Chos Film.

Ist es nicht vielleicht vielmehr die Bauersfrau, die erzählt, dass sie am liebsten den ganzen Tag auf der Bühne singen würde, wenn sie es sich wirklich aussuchen könnte? Oder der Schwimmbadmitarbeiter, der seine strenge Großmutter erst nach dem harten Militärdienst so richtig zu schätzen gelernt hat? Auch die unromantische Bekanntschaft zwischen seiner Schwester und ihrem zukünftigen Mann berührt einen, genauso wie die scheinbar für Chos Dreharbeiten konstruierte Tanzeinheit der Arbeiterinnern in einer Textilfabrik. Vor allen Dingen sind es jedoch die Gesichter von Chos Protagonisten. Sie durchleben die Interviews, die für sie zu einer Bewährungsprobe vor dem Staat werden, mit einer entwaffnenden Demut und offensichtlicher Verunsicherung. Das berührt und ermöglicht einem bei den Menschen zu bleiben.

Langsam fährt Thomas Schneiders Kamera die Straßen Nordkoreas entlang und verharrt bewegungslos bei Chos Protagonisten. Zwischen Erinnerungen an ihre eigene Kindheit und romantisierten Naturbetrachtungen bricht mit jedem „geliebter Führer“ die Fassade Nordkoreas. Absichtlich lässt die Regisseurin die Dinge unkommentiert. Ein Kommentar an diesen Stelle wäre wie ein Roman, der einem jede Gefühlsregung seiner Helden unnötig erklärt.

Olga Galicka

Zu sehen: Weltpremiere beim 9. LICHTER Filmfest Frankfurt International (Eröffnungsfilms am 29.3.2016, Wiederholung: Samstag, 2.4.2016, 15:00 Uhr, Mounsonturm, großer Saal).