Vor ein paar Jahren hat jemand ein Musikgenre namens Elektroswing erfunden. Sein charakteristischer Sound kombiniert Schlager der 1920er- und 30er-Jahre mit flotten elektronischen Beats. Tanzt man zusammen zu dieser Musik, fühlt man sich wie ein adrettes junges Paar, das während der goldenen Ära in einem Tanzlokal am Alexanderplatz die Hüften schwingt. Er mit gestärktem Hemdkragen, sie mit Topfhut und Federboa.

Ein solches Bild des Berlin der goldenen 1920er und der in Restaurants und Hotels residierenden Upperclass entspringt auch dem Stummfilm, etwa Friedrich Wilhelm Murnaus DER LETZTE MANN. Die Idee, eine Neuaufführung dieses Films mit besagter Elektronikmusik zu untermalen, ist da durchaus passend. Zwar spielt die Frankfurter Band „Les Trucs“ am Abend des 30. März 2016 im Frankfurter Filmmuseum nicht genau dieses Genre, doch mit ihren Chiptunes und Synthesizern erzeugt sie eine ähnliche, rhythmische Klangatmosphäre. Fast ohne Pause beleben Charlotte Simon und Zink Tonspur den Film mit ihrem Live-Sound.

Stichwort Upperclass: Eigentlich geht es in DER LETZTE MANN um einen, der gerade nicht dazugehört, aber sich mächtig viel darauf einbildet, dass er den feinen Herrschaften im Nobelhotel Atlantic wenigstens die Tür aufhalten darf. Der Portier mit dem gewaltigen Backenbart ist genügsam. Ein ganzes Berufsleben lang hat er den gut betuchten Hotelgästen die Koffer getragen – für den bescheidenen Stolz, dafür eine schmucke Uniform zu besitzen, die ihm bei den Nachbarn seiner kleinbürgerlichen Wohnsiedlung Ansehen verschafft. Doch nun wird er aus Altersgründen auf die Hoteltoilette versetzt. Seine Uniform muss er gegen einen weißen Kittel tauschen.

„Les Trucs“ variieren an ihrem Mischpult verschiedene Tonfolgen, aus denen die schematische Wiederholung spricht, die der Portier jahrelang mit seinen Auftritten im Wohnviertel gepflegt hat. An dem Schicksalstag, da er die Uniform verliert, fliegt auf, dass er dem System der großen Leute hilflos ausgeliefert ist. Während sich die Nachbarn schon das Maul über sein Unglück zerreißen, drehen „Les Trucs“ an den Knöpfchen, es blubbert rhythmisch. Das Brodeln verstärkt den Eindruck: Um nachbarschaftliche Solidarität ist es 1924, nach der großen Währungsinflation, nicht gut bestellt. Die städtische Gesellschaft zerfällt in zwei Lager – hier die schon wieder im Luxushotel residierenden Großbürger, dort die anderen, die in ihrer groben Webkleidung draußen vorbeilaufen.

Der Portier hat sich den Bessergestellten gerne angedient, damit etwas von ihrem Glanz auf ihn abfärbt. Ohne die Uniform ist er eine bemitleidenswert unelegante Erscheinung, alt und desaströs frisiert. Seine Ehefrau zeigt wenig Verständnis für das über ihn hereinbrechende Elend. Zumal plötzlich das Geld fehlt, um die Hochzeit der gemeinsamen Tochter zu finanzieren. Kleiner Mann, was nun?

So wie die Dinge stehen, gibt es eigentlich keinen Ausweg. Kurz vor Schluss zaubert der Film trotzdem mit selbstironischem Zwischentitel eine Deus-ex-machina-Lösung aus dem Hut. Aus der unverhofften Erbschaft eines Millionärs fließt Geld, das den früheren Hoteldiener von ganz unten nach ganz oben katapultiert – mitten an eine reichgedeckte Tafel im Hotelrestaurant. Siegfried Kracauer hat unwahrscheinliche Aufstiegsgeschichten dieser Art als verlogen getadelt, und auch „Les Trucs“ ist die eigenartige Wendung einen Kommentar wert. Nachdem die Bandmitglieder vorher vor allem ihre Instrumente bedient haben, greifen sie nun zum Mikro und singen mit feinem Sarkasmus: „Das haben wir uns … anders vorgestellt.“

Jonathan Horstmann