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Vielleicht erinnert sich der eine oder andere noch an den Schlager von Walter Andreas Schwarz. Es lohnt sich, die Platte von 1965 wieder aus dem Schrank zu holen, nachdem man WARTESAAL von Palo Korec gesehen hat. Im Refrain des Lieds geht es nämlich auch um einen Wartesaal, und darin wird die Idee des slowakischen Films wunderbar auf den Punkt gebracht: „Im Wartesaal zum großen Glück / Da warten viele, viele Leute / Die warten seit gestern auf das Glück von morgen / Und leben mit Wünschen von übermorgen / Und vergessen, es ist ja noch heute / Ach, die armen, armen Leute!“

Der Wartesaal, den Schwarz besingt, liegt in einem Hafen. Bei Korec befinden wir uns hingegen im Bahnhof von Bratislava. Sein Wartesaal ist der mit Gratis-WLAN und mürrischer Putzfrau ausgestattete Aufenthaltsbereich, wo verschiedene Städter ein und aus gehen. Auf dem Weg zum Zug oder nach Hause begegnen sie sich täglich, ohne etwas voneinander zu wissen. Nur wir Zuschauer erhalten Einblick in die Welt dieser Personen, machen von den Gleisen aus episodenhafte Ausflüge in ihre Wohnungen und an ihre Arbeitsplätze. Für ein paar Minuten sind wir dort stille Beobachter. Dann steigen wir am Bahnhof in ein neues Leben.

Die „armen Leute“, die in diesem Film auf das Glück von morgen warten und mit Wünschen von übermorgen leben, sind allesamt Frauen. Einige haben Kinder, Männer kommen in ihrem Leben nicht vor. Dieser Umstand macht einer Hobbytänzerin zu schaffen, während sie ihre Abende in einem Tangoclub verbringt und dort bei einigen Gläsern Weißwein darauf hofft, vom Richtigen auf die Tanzfläche geholt zu werden. Eine andere, schon etwas ältere Frau will ihre Arbeitslosigkeit durch selbstloses Engagement für Kinder aus einem städtischen Problemviertel mit Sinn füllen, meldet sich nach einem gescheiterten Einsatz aber lieber bei einer Partnervermittlung an. Wiederum hat die Mutter, die sich in der berührendsten Geschichte des Films aufopferungsvoll um ihre behinderte Tochter kümmert, schlicht keine Zeit für Romantik. In einer winzigen Wohnung isst, schläft und lebt sie mit ihrem Kind. Von ihrem eigenen Leben bleibt nicht mehr übrig als gelegentliche Zigarettenpausen.

WARTESAAL legt individuelle Probleme und Herausforderungen offen, ohne sie in einen gesellschaftlichen Zusammenhang zu stellen. Mit sicherer Hand arrangiert der Regisseur seine dokumentarischen Aufnahmen so, dass feine erzählerische Linien hervortreten. Sie verhelfen dem ruhigen Film zu sanftem Schwung. Manchen Darstellerinnen gestattet Korec, ihre aufgezeichneten Erlebnisse selbst aus dem Off zu kommentieren. Andere Geschichten erwecken den Eindruck, frei erfunden zu sein. Etwa die einer Spielsüchtigen: Wir sehen ihr dabei zu, wie sie sich um das Bahnhofskasino herumdrückt, schon fliehen will, dann ihrem Verlangen nachgibt und sich doch wieder an den Spielautomaten setzt. Ein gestelltes Szenario? Der Stimmigkeit des Films tut das keinen Abbruch.

Im Gegenteil, gerade die kleinen inszenatorischen Kniffe innerhalb des Ungeplanten erzeugen bei den Zuschauern eine Empathie, die im Vergleich zu anderen dokumentarischen Formaten ausgeprägter und doch weniger seifig als im Spielfilmkino ist. Unser Mitgefühl mit den Frauen ist echt. Es degradiert sie nicht zu Opfern. Da ihre Schwierigkeiten von keinem System verschuldet werden, kommt Korecs Film ohne besserwisserische Suggestionen aus. Er konzentriert sich auf das tieftraurige und gar nicht so seltene Leiden an Situationen, aus denen Menschen sich nicht unmittelbar befreien können. Jeder von uns hat dergleichen schon erlebt. Man hofft darauf, dass es morgen besser wird, und stellt dann resigniert fest: Ach, es ist ja noch heute.

Jonathan Horstmann

WARTESAAL lief im Wettbewerb des goEast Film Festival 2016.