Der Dokumentarfilm LES SAUTEURS (THOSE WHO JUMP) von Moritz Siebert, Estephan Wagner und Abou Bakar Sidibé thematisiert die Lebenssituation von Menschen, die sich vorwiegend aus der südlichen Hälfte Afrikas auf den Weg machen, um von Marokko aus über den nordafrikanischen Teil Spaniens nach Europa einzureisen. Durch die aktuelle politische Diskussion um das Thema Asyl in Zeiten der „Flüchtlingskrise“ gewinnt der Film thematisch umso mehr an tragischer Relevanz. Eben diese Relevanz kann sich sowohl als Potenzial, als auch als Crux darstellen. Wie soll man etwas innovativ darstellen, das medial doch dieser Tage so oft beleuchtet scheint? Siebert und Wagner haben sich dafür entschieden, der Perspektive des flüchtenden Menschen einen Raum zu geben und zwar genau an dem Ort, der Bewohnern der westlichen Welt heute oftmals nur noch als vage Erinnerung bekannt erscheint – dem Grenzzaun.

In diesem Fall handelt es sich um den Grenzzaun, der Marokko von der spanischen Exklave Melilla trennt und zu trauriger Berühmtheit gelangt ist, seitdem afrikanische Asylsuchende immer wieder versuchen, ihn zu Hunderten zu erstürmen, um nach Europa zu gelangen. Die beiden Filmemacher Moritz Siebert und Estephan Wagner gaben einem der Geflüchteten, Abou Bakar Sidibé, eine Handkamera, damit er seinen Alltag vor Melilla und seine Versuche, den Zaun zu überqueren, dokumentiert. Der dadurch mit rudimentärsten Mitteln entstandene Film LES SAUTEURS beleuchtet das, was oft vereinfachend „Flüchtlingsstrom“ genannt wird aus einer für Menschen mit europäischem Pass ungewohnten Perspektive. Der Film interessiert sich weder in erster Linie für den Grund der Flucht aus dem eigenen Herkunftsland, noch für die Ankunft am Ziel. Eher beleuchtet er die Situation von Menschen zwischen zwei Leben – Menschen, denen die Rückkehr keine Perspektive bietet und die deshalb unzählige Male versuchen, ein idealisiertes Ziel zu erreichen. Hier gibt es keinen „Flüchtlingsstrom“, sondern individuelle Menschen: wir lernen Abou und seine Freunde kennen und im Verlauf des Films entdeckt Abou selbst immer mehr die Freude am Filmemachen. Was als partizipatorische Dokumentation im Sinne eines Michael Moore beginnt, wird mehr und mehr auch poetisch. Abou entdeckt die Ästhetik der Welt um ihn herum durch die Kamera, exemplarisch belegt durch eine Szene, in der er und seine Freunde von ihrem Wohnort, dem Berg Gurugu, den Sonnenuntergang beobachten und dabei eine Cover-Version von Dolly Partons „I will always love you“ anhören, womit die Szene rein filmisch so auch eine musikalische Untermalung gewinnt. Über seine reine Qualität als Dokument fungiert LES SAUTEURS darüber hinaus also auch als ein Kommentar über das Filmemachen selbst.

Sicherlich ist es den Machern von LES SAUTEURS gelungen, eine unterrepräsentierte und individuelle Perspektive zur Thematik beizutragen. In Zeiten sozialer Netzwerke und Medienkonvergenz ist der Film jedoch nicht mehr als „dokumentarisches Experiment“ zu begreifen. Nicht zuletzt Joshua Oppenheimer hat mit THE ACT OF KILLING und THE LOOK OF SILENCE gezeigt, wie selbstreflexiv Dokumentation funktionieren kann, als er sowohl Täter als auch Opfer des Genozids in Indonesien in den 1960er Jahren bat, die Vorfälle aus ihrer Perspektive darzustellen.

Im Stil dessen funktioniert LES SAUTEURS als ernstzunehmender Paradigmenwechsel, der jedoch in seinem Ende etwas abrupt erscheint. Abou schafft den Sprung, erscheint für den Zuschauer plötzlich jedoch nur noch in einer Distanz – seine Überquerung des Zauns sehen wir nur durch die Überwachungskameras, welche ihn als Individuum unmöglich erkennbar machen. Auch nachdem er Melilla erreicht hat, filmt Abou nicht mehr selbst, sondern seine Freude über die Überquerung wird wieder aus der Distanz betrachtet. Er erscheint plötzlich auf seltsame Weise von der Verbindung entfernt, die er vorher mit dem Zuschauer aufgebaut hat.

Julia Willms

Zu sehen beim LICHTER Filmfest Frankfurt International am Mittwoch, 30.3.2016, um 21:00 Uhr im Mousonturm, Studio 1