Eine Frau wird an der Frankfurter Galluswarte von einer Straßenbahn überfahren – dies ist kein Spoiler, sondern der Ausgangspunkt von DER ENGEL VOM GALLUS. Von nun an folgt die Aufarbeitung des Geschehenen. Unterschiedliche Zeug_innen berichten von dem Tag, dem Moment, und was sich danach für sie verändert hat. Niemand spricht dabei das an, was sie alle verbindet: Der Tod der Frau.
Sie alle, das sind zwei Musiker -einer von ihnen Drummer- eine Flugbegleiterin, ein Bäcker, ein Obsthändler, die Frau des Obsthändlers und zu guter Letzt eine Trinkhallenkönigin. Dabei kommt es vor, dass das Erzählte der Augenzeug_innen nicht so recht zu dem passen will, was auf der Leinwand gezeigt wird. So wird der Film auf einfache aber effektive Weise zu einem Essay über Erinnerung, und wie sich darin Wahrnehmung und Wahrheit vermischen, überlagern oder gar auslöschen.

Eine helle Freude hat man als Bewohner Frankfurts daran, zu sehen wie liebevoll die Galluswarte als Ort dargestellt wird. Hier gibt es keine Hipster, selbst die jungen Musiker sehen eher unspektakulär aus, kurz: Hier wird Binding Bier statt Club Mate getrunken. Eine seltsame Sehnsucht weckt der Film: Bitte, bitte dreht noch mehr solcher Filme über andere, typische Frankfurter Orte. Den alten Bockenheimer Campus, die Bergerstraße, das Bahnhofsviertel – viele besondere Viertel und Plätze gibt es, und man würde gerne sehen, welche Geschichten die Macher von DER ENGEL VOM GALLUS an diesen Plätzen spielen lassen würden.

Den Eindruck einer intensiven Beschäftigung mit der Geschichte und aktuellen Situation des Schauplatzes bestätigen der Regisseur und die Schauspieler_innen im Filmgespräch auf dem LICHTER Filmfest: So erzählt Altine Emini, welche auf erfrischend freche Weise die Trinkhallenkönigin im Film gibt, dass sie ihre Tage an der Galluswarte genutzt hat, um sich mit Stammgästen der dortigen Trinkhalle anzufreunden. So war eine Basis geschaffen, um die echten Menschen dieses Ortes in den Film einzubinden. Dies ist rundum gelungen und gibt allem einen angenehm ungezwungenen dokumentarischen Anstrich.

Der Film ist das Projekt von Schauspielschüler_innen der Hochschule für Musik und darstellende Kunst und entstand unter der Leitung von Regisseur Tobias Lenel. Letzterer fügt im Filmgespräch hinzu, dass der Film ein „Fest der Continuity-Fehler“ sei. Das stört jedoch nicht weiter, da der Film mit den Erinnerungen der Figuren spielt, und Erinnerungen haben nun mal gelegentlich die Eigenschaft, verschwommen, unklar, wirr, oder eben falsch zusammengesetzt zu sein.

Das Team um Tobias Lenel ist gelungen in ihrem Film das pralle Leben einzufangen – ein echtes Frankfurt, gar nicht so weit entfernt, aber fernab der Bankentürme. Danke für diesen Frankfurt-Film!

von Thekla Stobbe

Gesehen beim LICHTER Filmfest Frankfurt International als Teil der regionalen Langfilme.