Rafał bittet seinen Chef um zwei Tage Urlaub, damit er zur Beerdigung seiner soeben verstorbenen Mutter fahren kann. „Man hat ja nur eine Mutter“, also wird dem mündlichen Antrag stattgegeben. Eine konventionelle Szene, die tagtäglich irgendwo geschehen könnte. Doch THE SUN, THE SUN BLENDED ME fängt sie in einer ungewöhnlichen Perspektive ein: Die Kamera sitzt Rafał buchstäblich im Nacken. Im Laufe des gesamten Dialogs ist nur sein Hinterkopf zu sehen, während der Chef im Hintergrund sitzt; ein bis zur Unkenntlichkeit unscharfer Farbklecks. Mechanischer Zuglärm stürzt auf die beiden ein, um die nächste Szene einzuleiten. Stilsicher zeichnet der Film eine Welt voller emotionsloser Menschen, indem er die Unpersönlichkeit der Situation durch den ungewohnten Kamerablick unterstreicht.

Immer wieder hängt die Kamera irritierend nah an den Figuren und entlarvt sie in intimen Situationen, starrt etwa einem Pastor in Unterwäsche indiskret zwischen die Beine beim Abendbrot. Dem Film scheint es nicht um bestimmte Individuen mit ihrer je eigenen Persönlichkeit zu gehen, sondern um Menschentypen und ihre Art, unmoralische Handlungen zu rechtfertigen: Wie die drei Affen hören, sehen, sagen sie nichts Böses; und niemals sind sie schuld, sondern stets heißt es: „Die Sonne blendete mich“. Oder das tosende Meer. Daher sind alle Figuren durchweg sehr eindimensional gezeichnet, auch die entscheidende Rolle des „Schwarzen Mannes“, den man sich als positives Gegenmodell gerne vielschichtiger gewünscht hätte. Alle fürchten sich vor ihm, Rafał rennt sogar von ihm davon. Das tägliche Jogging ist als mechanische Wiederholung immer derselben Bewegung ein gelungenes Sinnbild für das monotone, zombieartige Leben ohne echte Beziehung zur sozialen Umwelt.

Doch eine außer-alltägliche Situation entsteht, wenn das Fremde in die eigene Welt einbricht. Ebenso wird mehrmals die vierte Wand durchbrochen: vor Gericht, aber auch schon bei Rafałs Schulterblick im Auto nach einer Zollkontrolle. Albert Camus’ Roman „Der Fremde“ ist die lose, aber explizite literarische Vorlage; der imaginäre Blick des Fremden kann auch mit dem teilnahmslosen Blick der Kamera gleichgesetzt werden. Gerne hätte man sich mehr von den surrealen Szenen aus Rafałs Kopfkino der irrationalen Ängste gewünscht. Doch ebenso absurd – zwar nicht visuell, aber intellektuell – sind eigentlich auch alle anderen Szenen und Figuren, etwa wenn Unmengen von fremdenfeindlichen Vorurteilen auf dem Grill des Alltagsrassismus liegen. Und so bleiben sie am Ende alle einsam: Rafał in seiner Gefängniszelle, die sich in ihrer Funktionalität und Kargheit nicht sonderlich von seiner früheren Wohnung unterscheidet, seine Freundin auf der Theaterbühne und der Fremde sowieso. Mit einer arg plakativen letzten Szene hat am Ende jeder verstanden, dass sich das Eigene und das Fremde nur gemeinsam denken lassen.

von Thomas Robak

SŁOŃCE, TO SŁOŃCE MNIE OŚLEPIŁO (THE SUN, THE SUN BLINDED ME) läuft beim 17. GoEast – Festival des mittel- und osteuropäischen Films im Wettbewerb.

Termine:
Freitag, 28.04.2017, 18:oo Uhr, in der Caligari FilmBühne, Wiesbaden
Samstag, 29.04. 2017, 18:00 Uhr, im Deutschen Filmmuseum, Frankfurt
Samstag, 29.04. 2017, 20:00 Uhr, im Apollo Kinocenter, Wiesbaden