Das menschliche Bedürfnis nach Nähe und Berührungen ist eine auf vielen Ebenen hochkomplexe Angelegenheit. Bevor man sich aber mit dieser tatsächlich auseinandersetzen kann, muss der Mensch eine Möglichkeit finden, dieses Bedürfnis auszudrücken. Die Frage, wie ein filmischer Ausdruck dessen aussehen könnte, stellt sich auch in Lisa Charlotte Friedrichs Film „LIVE“.

Die Welt, in der der Film spielt, hat aus Sorge vor Terroranschlägen alle Versammlungen von mehr als 20 Personen verboten und damit auch alle Konzerte und Kulturveranstaltungen. Claire, eine frühere Musikerin, die Überlebende von Anschlägen betreut, und ihr Bruder Aurel versuchen dennoch mithilfe zweier Hacker*innen, Ada und Maximus, ein Live-Konzert spielen zu können. Bereits der Anfang macht das Programm des Films deutlich: Eine Erinnerung an eine Vergangenheit, in der es noch Versammlungen gab, die leicht dissonante Musik, die den Rhythmus des Films bestimmt und ein Fokus auf die Psyche von Claire. Der Überwachungsstaat, in dem die beiden leben, ist von Mechanik und Bürokratie geprägt und bringt durch die Verschiebung des Kontakts ins Virtuelle ungewöhnliche Handlungen hervor, wie etwa das gemeinsame Zähneputzen in einem Videochat.

Man kann sehr schnell erkennen, dass Claire eine im Grunde leere Figur ist, die an die Vergangenheit denkend in der Gegenwart keinerlei Motivation findet. Doch anstatt sich mit dieser Leere zu beschäftigen, beginnt der Film sehr schnell damit, für alle Handlungen Claires einen Grund in ihrer Psyche zu suchen, was gegen Ende zu einer bizarren Szene führt, in der das Hacker-Pärchen ihr von ihrer polyamorösen Beziehung erzählt. Der Film arbeitet Claires Entwicklung hin zu einer geheimen Konzertmusikerin weder auf ästhetischer noch auf narrativer Ebene wirklich aus. Seine sehr geschlossene und klare Form drängt alles, was aus dieser Form auszubrechen versucht, in den Hintergrund. Dabei fällt es dem Film mit zunehmender Länge immer schwerer, sich zwischen einer filmischen Erfahrung und einer gesellschaftspolitischen Bedeutung zu entscheiden. Wo in Filmen wie Fassbinders „Welt am Draht“ (1973) das Interessante gerade in dem Aufeinandertreffen und der Reibung dieser beiden Pole bestand, verweigert dieser Film konsequent die Auseinandersetzung mit dieser Reibung und verliert schließlich auch die gerade zu Beginn noch auftauchenden Bilder der Einsamkeit, etwa wenn Claire alleine in einer längst geschlossenen Bar sitzt, und wirkt hilflos im Angesicht der Komplexität ihrer Welt.

Dabei stecken in eben dieser Welt durchaus viele interessante Gedanken, die die Frage aufwerfen, was passiert, wenn den Menschen das Gefühl der Nähe und des Zusammenseins genommen wird. Aber der Film interessiert sich für diesen Gedanken wie für so vieles immer nur für kurze Zeit oder bloß am Rande. Als Claire die Hand von Ada nehmen möchte, haben sie und der Film dafür nur ein Schmunzeln übrig. Wo für einen Moment das Gefühl einer taktilen Wahrnehmung, einer Körperlichkeit auftaucht, steht schon wieder die nächste Szene in einem Hacker-Keller. Auch die Frage der Dissonanz spielt in der Variation der Kain- und Abel-Geschichte zwischen Aurel und Claire eine entscheidende Rolle. Gemeinsam spielen sie auf ihrem Konzert ein Stück, „das man nur zu zweit spielen kann, wegen der Dissonanzen.“ Dass das Verhältnis der beiden, schon seit sie Kinder sind, von eben diesen Disharmonien geprägt ist, ist ebenfalls etwas, was der Film bloß andeutet, aber nicht bis zu Ende denkt, obwohl eine scheinbar untrennbare Verbindung, die auf Dissonanzen beruht, mir eine interessante und instabile Denkfigur zu sein scheint.

Die überall vorherrschende Instabilität und die damit einhergehende Sehnsucht nach Nähe und Gemeinschaft erfahrbar zu machen, gelingt dem Film nur in der Konzertszene in der Mitte des Films. Denn hier ist der Film ganz bei sich und bei den Menschen und zeigt, dass die tiefgehenden Folgen der Einschränkungen in den Augen und Körpern der eingesperrten Menschen am besten zu erkennen sind. Denn diesen wurden die Möglichkeit genommen, Geschichten zu erzählen, weil die einzige Geschichte vom Staat vorgegeben wird. Der Moment, in dem die Live-Musik beginnt, bietet eine Möglichkeit zur Rückeroberung des eigenen Erzählens und Fühlens. Nicht nur die Musiker*innen können mit der Live-Performance etwas ausdrücken, sondern auch die Zuhörer*innen.

Doch am Ende sind sowohl der Film als auch seine Figuren von einer großen Verunsicherung geprägt. „LIVE“ erreicht seine Figuren nicht mehr, er hat jede Verbindung verloren. Und die Suche nach der Verbindung ist eben auch schon eine Annäherung. Eine Annäherung, die der Film nicht erlaubt.