Die in YOU ARE OVERREACTING aufgeworfene Kritik am Patriarchat und an der der Gesellschaft anerzogenen Misogynie sollte doch eigentlich inzwischen bei jedem angekommen sein. Frauen ziehen sich nicht an  – oder nicht an, um dann begrabscht und vergewaltigt zu werden. Gegen victim blaming spricht sich Karina Paciorkowskas Film ganz laut aus. Für eine Aufklärung der Gesellschaft über alles Nicht-Männliche. Und auch für ein Überdenken genau dieses „Männlichen“.
Eigentlich. Eigentlich sollte es doch inzwischen jeder verstanden haben. Leider nein, leider ein scheinbar utopischer Wunsch.
Zu PRISONER OF SOCIETY, dem vom Festival als „erster LGBT-Dokumentarfilm Georgiens“ ausgewiesenen Portrait der Transfrau Adelina Polina, wird eben jener Frau im anschließenden Q&A genau eine Frage gestellt: „Are you a victim of society, or are you a victim of biology?“ Dass Gender ein soziales Konstrukt ist, hat demnach immer noch nicht jeder verstanden.
Aber dieses ganze Gegendere. Neumodisches Pseudoproblem, wie soll man sich das denn alles so schnell merken? Diese fadenscheinige Ausrede, die die Heteronormativität von den Dächern schreit, kann zum Glück noch im selben Programm entkräftet werden. Mit WONDERFUL YEARS wollten die Regisseurinnen Galina Yarmanova und Svitlana Shymko ursprünglich mehr über die Geschichten ihrer Mütter und über deren Perspektive auf die Ehe erfahren. Im Laufe der Produktion tat sich jedoch ein neuer Pfad auf. In der Kollage aus Archivaufnahmen und Interviews von und mit Frauen, die in der ehemaligen Sowjetunion heirateten. Männer natürlich. So war das in den 1950ern, 60ern, 70ern. So ist das heute auch noch. Mädchen werden nach ihrem Traumprinzen gefragt, junge Frauen, wann sie denn heiraten. Alle über 40 „finden wohl nie einen“. Doch genau wie heute, gab es auch schon damals (und schon seit Anbeginn der Menschheit, aber das übersteigt vielleicht Horizonte) Frauen, die lieber eine Frau geheiratet hätten. Genauso natürlich Männer, die lieber Männer geheiratet hätten. Und auch alles dazwischen. Das Gefühl des Nicht-Hineinpassens ist eben kein neues. Es ist kein schickes Hobby der westlichen Weiblichkeit Männern ihre Fehler und ihre Verbrechen vorzuwerfen. Es ist nicht die Arroganz der Jugend, dass Frauen ihren Müttern erklären, dass sich alle anziehen dürfen, wie sie wollen. Es ist auch nicht die Schuld des Internets, oder der ach so penetranten schwulen Community, dass Mädchen jetzt Jungs und Jungs jetzt Mädchen sein wollen. Es ist leider einfach die Schuld des Patriarchats, dass sich erst jetzt Menschen trauen dürfen, sie selbst zu sein. Und selbst das nicht überall. Aber zumindest hier. Zumindest in Deutschland, zumindest in Wiesbaden, zumindest auf dem goEast Festival sollten es dann ja jetzt mal alle verstanden haben.

Alice Nagel