Auf dem Höhepunkt der griechischen Finanz- und Gesellschaftskrise zeigt Queen Antigone von Telémachos Alexiou, dass tragisches Schicksal kein Monopol antiker Tragödien ist.

Sie hat keinen Namen, und die ersten Szenen des Films lang auch kein Gesicht. Das erste, in das der Zuschauer frontal blickt, gehört ihrem Vater. Leblos liegt er da, seit Jahren schon im Sterben. Er ist Ödipus, seiner Familie Fluch und Verhängnis. Ihn am Leben zu erhalten, seine Medizin zu zahlen, bestimmt das Leben seiner Tochter. Sie ist Sklavin, Mutter, Putzfrau und Prostituierte; sie spricht mit der Waschmaschine, als könne die sie reinwaschen von Putzmitteln und Freierhänden, Medikamentengeruch und klebrigem Make up, von der Verantwortung für ihren unselbständigen Bruder, den sie, Mutter und Schwester zugleich, ernähren, aber auch verbinden und trösten muss, wenn er geschminkt zur Schule und verprügelt nach Hause kommt. Während sie seine Wunden salbt, sprechen die Geschwister im Zweistimmenchor Szenen aus Sophokles’ Antigone weihevoll wie ein Gebet.

Eigentlich Schullektüre des Bruders, wird das Stück immer mehr zu ihrem Text. Der Film ist vor allem eine Liebeserklärung an sie, die Namenlose. Eine Verbeugung vor der Würde und Schönheit dieser lebenstraurigen und sterbensklugen Frau mit blauen Fingernägeln und Amy Winehouse-Frisur in Leopardenleggins und Stöckelschuhen, die den hilflosen Versuch unternimmt, sich und ihren Bruder aus der Heillosigkeit neither with the living nor with the dead zu retten. Das weder-noch ist Programm. Nicht umsonst wird der Film im Abspann der Antigoneinterpretin Judith Butler danken. Nicht nur die Theater-, vor allem auch die Geschlechterrollen sind zentrales Motiv in Alexious Film. In einer der zärtlichen, traurig verspielten Szenen zwischen den beiden Geschwistern tauschen sie die Geschlechter, malt sie sich mit Kajal einen Schnurrbart und ihm mit Lippenstift einen Schmollmund.

Als keiner ihrer zahlreichen unterbezahlten Jobs mehr ausreicht, um Ödipus’ Medikamente zu bezahlen, lassen die Kinder den Vater blumengeschmückt in seiner Matratzengruft zurück. Denn wie der Staat – Kreon hier allein als Fernseh- oder Radiostimme, patriotische Durchhalteparolen produzierender Sprechautomat präsent – erscheint auch die Familie bei Alexiou als eine im Zerfall begriffene Ordnung, die durch Selbstaufgabe und Auszehrung ihrer Mitglieder am Leben erhalten wird. Es beginnt ein zielloser Road Trip heraus aus der Stadt über Feldwege in Griechenlands mythische Küstenlandschaft und an touristische Badestrände.

Immer wieder wird die realistische Szenerie durchbrochen von theaterhaften Szenen, in denen die fliehenden Geschwister ihrem mittlerweile verstorbenen Vater als klassischem Ödipus in Toga begegnen, der, aus leeren Augenhöhlen blutend, umherirrt. Leichtbekleidete athletische Jünglinge, die Schaukämpfe austragen, als seien sie eben der Darstellung auf einer antiken Amphore entsprungen, vor allem aber Sophokles’ Textzeilen begleiten ihren Weg. Auf der Straße verlieren sie einander zusehends, der Bruder isst die gemeinsame Wegzehrung, sie zieht sich immer weiter in die Rezitation der Antigonemonologe zurück, bis er das Buch ins Meer und sie ihn aus dem Auto schmeißt.

Sie nähern sich einander wieder an, aber schnell muss er feststellen, dass das, was nun zwischen ihnen geschieht, kein Neuanfang, sondern eine Verabschiedung ist. Die Schwester ist längst dort, wo er sie nicht mehr erreichen kann. Und so nimmt das Verhängnis seinen Lauf: Im letzten Akt, dem Exodus, wird aus dem Theater- ein Stummfilm, Antigone erfüllt ihr Schicksal, und ihr Schicksal erlöst sie.

Sie ist Antigone.

(Festivalkritik im Rahmen des LICHTER Filmfest 2015)