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Neonlicht wird erzeugt, indem Gas in einer Glasröhre durch elektrische Impulse zum Glühen gebracht wird. Das Licht, das so entsteht, ist heller und durchdringender als das anderer Lichtquellen. Die Erfindung farbigen Neonlichts hat in gewisser Weise neuartige Farbe hervorgebracht: Eine Farbe, die aus sich heraus leuchtet und nicht als Reflexion einfallender Strahlung. Damit hat Neonlicht eine natürliche Affinität zum Kino, das gerade im Fall der Projektion analogen Filmmaterials ebenfalls als eine Kunst zu verstehen ist, Farben aus sich heraus zum Leuchten zu bringen.

Die erste Epoche der Filmgeschichte, die in einem engen Verhältnis zum Neonlicht steht, waren die 80er Jahre. Filme wie „Diva“ und „Blade Runner“, aber auch Serien wie „Miami Vice“ stellten eine enge Verbindung zwischen leuchtenden Neonlandschaften und der Vision eines modernen städtischen Lebens her. So wurde das Neonlicht assoziiert mit einer hyperrealen Konsumästhetik, der Kriminalität und dem Exzess der modernen Stadt. Ja, es war ein Kennzeichen des Futurismus der Achtziger, dass in den neonstrahlenden Straßenschluchten, wie es sie besonders in Japan bereits gab, ein Zeichen einer nahen Zukunft gesehen wurde, in welcher das Leben in Megacities von der Art Tokios zum globalen Standard geworden ist. In der Nachfolge von „Blade Runner“ und William Gibsions „Neuromancer“-Romanen entstand so eine ganze Ikonografie einer möglichen Zukunft.

Wenn man Theorien glauben schenken möchte, die es als prägendes Merkmal unserer Epoche ansehen, die Zukunftsvisionen vergangener Jahrzehnte zu recyclen, dann kann es kaum überraschen, dass heute die Neonästhetik der Achtzigerjahre eine Renaissance feiert. Nicolas Winding Refn und Gaspar Noé – um nur zwei Beispiele zu nennen – sind zwei einflussreiche Filmemacher, die, zwischen Independent und Mainstreamkino angesiedelt, von der filmischen Neonästhetik der 80er besessen sind und diese für ein heutiges Publikum aufbereiten. Es wäre aber ein Fehler, in dieser Faszination für eine frühere Epoche des Kinos einfach eine Form postmodernen Recyclings zu sehen. Die Technologie ist inzwischen weit vorangeschritten, und moderne, hochauflösende Kameras sind heute in der Lage, noch das feinste Flirren der Farbreflexe und Spiegelungen des Neonlichts auf glatten Oberflächen und Gesichtern der Menschen festzuhalten. So werden erst neue Kameras der gasförmigen Qualität des Neonlichts richtig gerecht, das sich früher eher in Form einer gezielten Überbelichtung, quasi als Loch aus Licht, in das Filmmaterial einbrannte. Refn, Noé, Harmony Korine und andere komplementieren diese farbliche Sättigung des Bildes mit einem neuartigen Einsatz von Soundtrack, welcher pulsierend, elektronisch und basslastig den Bildern eine hyperreale Präsenz verleiht, die sehr gut erkennen lässt, dass es sich hier um eine Kraftdemonstration des Kinos handelt: Auch heute soll es noch in der Lage sein, die Sinne zu überwältigen und die Zuschauer in eine fremdartig leuchtende Traumwelt zu entführen.

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Diese Neonästhetik, zuerst im Spielfilm erprobt und entwickelt, hat inzwischen auch im Dokumentarfilm Verbreitung gefunden. Das Lichter Filmfest 2020 präsentiert gleich drei Filme, welche oberflächlich betrachtet nicht viel gemeinsam haben, jedoch im Einsatz von hochauflösenden Bildern, einem flächigen, bombastischen Soundtrack und der Strahlkraft von Neonlicht eine Art von sofortigem Kino-Effekt erzielen.

Was bedeutet Kino-Effekt? Die beschriebene Ästhetik, so scheint es die Wette der Filmemacher*innen zu sein, hebt diese Filme über einen gewöhnlichen Dokumentarfilmstandard hinaus und verleiht ihren Arbeiten eine Form von cineastischer Qualität, die in ihrer Wirkung auf den Zuschauer oft ununterscheidbar von der eines Spielfilms ist.

Am weitesten geht hier Inigo Westmeier mit seinem Film „Black China“, welcher das Leben afrikanischer Einwanderer in der chinesischen Stadt Guangzhou porträtiert. In einer Weise, die sehr direkt an den Spielfilmvorbildern geschult ist, folgt hier die Kamera zu den flirrenden Klängen elektrischer Gitarren und Synthesizer den Protagonisten durch die Straßenschluchten der Stadt, folgt ihnen fasziniert in düstere, fensterlose Karaokebars, überfliegt die endlosen Reihen aus Hochhäusern mit spektakulären Drohnenaufnahmen und spielt diese bläulich glühende Hypermodernität der chinesischen Stadtlandschaft gegen den technologisch rückständigen afrikanischen Kontinent aus, der hier durch einen sandfarbenen Filter optisch stark vom chinesischen Hauptteil des Films abgesetzt wird und eine Art narrative Klammer bildet: Viele der Einwanderer, die keine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung erhalten, pendeln zwischen China und ihren Heimatländern hin und her oder träumen davon, als erfolgreiche Geschäftsleute in ihre Heimat zurückzukehren.

Nicht weniger spektakulär in seiner visuellen Textur nimmt sich Luke Lorentzens „Midnight Family“ aus. Der Film folgt einer mexikanischen Familie, die in der Hauptstadt des Landes einen privaten Krankenwagen betreibt. Nacht für Nacht, bei jedem neuen Notfall, konkurriert dieser mit den städtischen Krankenwagen um Patienten. Der Film führt die Perversionen eines radikal privatisierten Gesundheitssystems eindrücklich vor: Unwillkürlich sympathisiert der Zuschauer mit den Protagonisten, welche im allnächtlichen Kampf um ein ausreichendes Auskommen einen fast schon beispielhaften familiären Zusammenhalt an den Tag legen. Gleichzeitig ist man kaum in der Lage, über den Schrecken hinwegzusehen, der in der Akzeptanz eines Lebens liegt, allnächtlich das Unglück anderer möglichst profitabel zum eigenen Gunsten auszunutzen. Lorentzens Kamera bleibt im Gegensatz zu derjenigen Westmeiers konsequent am Boden und verfolgt das Geschehen zum Großteil aus dem Inneren des Krankenwagens der Ochoas. Der Film gewinnt so etwas von der Spontanität des klassischen Direct Cinema. Gleichzeitig macht Lorentzen vollen Gebrauch von den Möglichkeiten moderner Aufnahmetechnologie, bei welchen nicht mehr zwischen der Qualität der Bilder und der Mobilität der Kamera abgewogen werden muss. So gelingt ihm ein Film, in welchem jedes einzelne Bild die monumentale Qualität klassischer Cinemascope-Fotografie besitzt und zugleich in einer Art „aus dem Leben gegriffen“ wirkt, die die Erfahrung des Films vom Betrachten eines Spielfilms fast ununterscheidbar macht. Dieser Kino-Effekt wird gerade durch das Spiel des roten und blauen Sirenenlichts erzeugt, das sich in jeder Einstellung auf den Gesichtern der Protagonisten spiegelt und bisweilen das ganze Bild wie ein Filter durchdringt.

In dieser Erzeugung einer cineastischen Wirkung eigentlich dokumentarischen Materials durch den effektvollen Ansatz glühenden Neonlichts ähnelt Elke Margarete Lehrenkraus‘ Film „Lovemobil“ dem Ansatz Lorentzens. Auch der Schauplatz weist Parallelen auf: Wieder ist der Innenraum eines großen Autos Schauplatz eines prekären und bisweilen schockierenden Geschehens am Rand der Gesellschaft. „Lovemobil“ handelt von Wohnmobilen, die als Kleinbordelle am Rand deutscher Bundesstraßen betrieben werden. Lehrenkraus fokussiert sich vor allem auf drei Protagonistinnen. Die Prostituierten Milena und Rita, sowie die Vermieterin der Wohnwagen und ehemalige Prostituierte Uschi. Wie im Falle der Ochoa-Famile führt uns dieser Film tief hinein in eine ethisch unauflösbare Problematik. Die grundlegende Akzeptanz gegenüber Sexarbeit, welche Lehrenhaus bei einem liberalen Publikum erwarten darf, wird bis zum Äußersten strapaziert, wenn wir mit der Einsamkeit und Perspektivlosigkeit der Protagonistinnen konfrontiert werden, die „mitten im Nirgendwo“, eingerahmt von rot glühenden Lichterketten, in ihren Wagen sitzen und hoffen, dass der nächste Freier nicht nicht einer der Mörder sein wird, welche während der Dreharbeiten des Films tatsächlich zwei Opfer unter den Frauen forderten.

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Was bedeutet also die Erweiterung der Neonästhetik aus dem Spielfilm in den Dokumentarfilm? Ist es einfach eine opportune Technik, um Dokumentarfilme auf ein visuelles Niveau zu heben, das eine Präsentation im Kino als „richtigen Film“ legitimiert? Bestimmt ist sie auch das. Es sind durchaus subtilere Arten vorstellbar, sich den jeweiligen Themen filmisch zu nähern. Die Neonästhetik schleift Ecken und Kanten ab, überdeckt die Rolle, die die Filmemacher*innen im Entstehungsprozess des Materials haben, und bedeutet auch das Einverständnis mit einer gewissen Auflösung der kritischen Distanz zwischen Zuschauer und dem dokumentierten Geschehen zugunsten einer quasi-fiktionalen Immersion. Auf der anderen Seite findet sich in der Gattungs- und themenübergreifenden Neonästhetik im Gegenwartskino ein kraftvoller gemeinsamer Motivschatz. Denn es ist ja offensichtlich, dass die Parallelen der besprochenen Filme sich nicht auf das Ästhetische beschränken. Vielmehr ist die Neonästhetik in allen drei Fällen gebunden an die Gemeinsamkeiten der Lebenswelten der Protagonisten, so weit sie geografisch auch voneinander entfernt sind. Im Falle der afrikanischen Einwanderer in Guangzhou und der Ochoa-Familie geht es um das prekäre Leben in den Eingeweiden einer Großstadt, um die Verheißungen eines solchen Lebens und ihre lockende Konsumästhetik. Gleichzeitig werden die Städte als ein leuchtendes Labyrinth dargestellt, das die Protagonisten jederzeit zu verschlucken droht. In dieser Weise schreiben sich diese Filme sehr genau in die Ikonografie des Cyberpunk und dessen Vision einer zukünftigen Urbanität der Megacities ein.

Aber auch in „Lovemobil“, der in der Provinz spielt, scheinen die kleinen, von Lichterketten ausgeschmückten Wohnmobile sowie das schäbige Bordell in der benachbarten Kleinstadt, kleine Miniaturversionen dieser Sphäre zu sein, in welcher unerfüllte Träume, Gefahr und Verheißung aufeinandertreffen. In diesem Sinne kann man sagen, dass das Neonkino heute den spezifischen Farbfilm bildet, der unserer Zeit entspricht; irgendwo zwischen Vergangenheit und Zukunft angesiedelt, ist er die perfekte Projektionsfläche für unsere Träume und Ambitionen inmitten einer ungerechten und ständig expandierenden Gesellschaft der Großstädte.