Leningrad. Winter 1945. Der zweite Weltkrieg ist seit mehr als sechs Monaten in Europa vorüber. Für die Bewohner der Stadt ist dies selbst im Vergleich zu anderen, mitgenommenen Städten eine äußerst harte Zeit. Es ist bitterkalt, das Krankenhaus platzt aus allen Nähten mit Kriegsverletzten, und die körperlich Gesunden hungern. In einer Zeit der Hoffnungslosigkeit werden wir Zeugen der Geschichte von Ilya (Viktoriya Miroshnichenko), einer Krankenschwester mit starkem Kriegstrauma. Wegen ihrer Größe und ihres mageren Aussehens wird sie von den Mitmenschen schlicht Dylda – zu deutsch „Bohnenstange“ – genannt. Sie versucht, sich in der heruntergekommenen Stadt wieder ein Leben aufzubauen. Als sei das der Umstände wegen nicht schon schwer genug, muss sie nebenbei auch auf ein Kind achtgeben, was trotz der Unterstützung ihrer Freundin Mascha (Vasilisa Perelygina) kaum machbar zu sein scheint. Mit den beiden Hauptfiguren Ilya und Mascha erzählt Regisseur Kantemir Balagov dann ein Drama über Zusammenhalt, Kriegsverarbeitung und Schockstarre der Bürger Leningrads.

*** Local Caption *** Dylda, Kantemir Balagov, RUS 2019, V'19, Features

Wenn Dylda in einem Aspekt besonders hervorsticht, dann durch das exzellente Set-Design von Sergey Ivanov. Der Putz bröckelt an jeder Wand, die Gegenstände sehen verbraucht aus, die Klamotten verwaschen und überbenutzt. Auch die Beleuchtung ist spärlich in einer Stadt, in welcher der Strom des Öfteren ausfällt. Zusammen mit starken Farbkontrasten und den überzeugenden Darstellerinnen ergibt sich eine Synergie des Elends, die es trotzdem gebannt zu bestaunen gilt. Der Film besticht mit einer hervorragenden Ästhetik. Die ist bei diesem gewählten, gemächlichen Tempo von Dylda auch bitter vonnöten, denn es wird über die gesamte Lauflänge wenig geschnitten und Einstellungen teilweise minutenlang gehalten. Dadurch kann sich jeder Darsteller entfalten und das Set sowie alle anderen Facetten – wie das der Beleuchtung – herrlich zur Geltung kommen. In diesen Aspekten überzeugt Dylda und verleiht den Figuren außerdem genug Sympathie in der voranschleichenden Handlung, dass man die Länge von 139 Minuten auch ohne Langeweile oder abwesendem Gemüt durchhält.

So wie Balagov das Tempo seines Films einspart, macht er dies auch mit der Musik, denn es gibt kaum welche. Viele Szenen kommen außer den Stimmen der Darsteller komplett ohne musikalische Geräusche aus. Ungewöhnlich, aber sehr willkommen, da gerade hier der im letzten Jahr erschienene, russische Blockbuster „Koma“ völlig sinnfrei in jeder Szene mit Dauerdröhnen unterlegt war. Durch den Verzicht auf unnötigen Soundtrack intensiviert sich das kühle Schauspiel in Dylda umso mehr.

Dennoch gibt es bei all dem Augenschmaus des tragischen Ambientes ein nicht zu übersehendes Manko, das nicht von der Wimper zu wischen ist. Es ist die fehlende Entwicklung der Figuren. Jeder eingeführte Charakter bleibt bis zum Abspann unverändert, obwohl einige drastische Geschehnisse in der Handlung ablaufen, die in sonstigen Dramen den sofortigen Wendepunkt einer Figur herbeiführen würden. Das fehlt in Dylda komplett. Ilya bleibt bis zum Finale stets passiv, Mascha konstant kühl und verhärmt. Doch bei einer Bestandsaufnahme, die Regisseur Kantemir Balagov präsentieren möchte, ist dies bestens zu verkraften.