„Was glaubst du, was dich stark macht?“, fragt die Interviewerin den dicklichen, introvertierten Lucas. „Eigentlich gar nichts“, murrt Lucas in die Kamera. „Da gibt es bestimmt etwas“, hakt sie nach, „ist es vielleicht Zeit?“ Lucas hat Konzentrationsprobleme, deswegen bereitet ihm die Schule Mühe. Das klingt jetzt wie der Anfang eines Leinwandabenteuers mit Lerntherapiestunden, Kinderarztbesuchen und erfolgsnervösen Eltern, aber vor der Kamera sitzt ein unaufgeregter Siebenjähriger, der gerne allein in seinem Zimmer mit Legosteinen und Spielzeugautos spielt. Lieblingsfächer: Sport und große Pause. Warum auch nicht? Denn, wie Janusz Korczak schon wusste, hat jedes Kind das Recht auf Mittelmäßigkeit. Wobei, und das wiederum wusste Aristoteles: „die goldene Mitte, die ist ja sowieso nicht für jeden Menschen ein und dasselbe“.

Hella Wenders (Heiter bis wolkig, Marisol) drehte im Zeitraum von 2007 bis 2012 eine Doku über die Berg-Fidel-Schule in Münster, die damals erste Grundschule in Deutschland, in der alle Kinder, unabhängig von ihrem geistigen und körperlichen Entwicklungsstand, gemeinsam lernen, kein Kind bleibt hinten dran, kein Kind außen vor, jedes wird aber so gefördert, wie es seinen Stärken und Schwächen angemessen ist.

Da ist zum Beispiel David, schwerhörig und hochmusikalisch, körperlich eingeschränkt, dafür aber überaus eloquent. Er weiß offensichtlich gut seine Lage einzuschätzen: „Ich habe einige Schwächen am Körper, aber dafür bin ich in anderen Dingen ganz gut.“

Anita, seine Klassenkameradin, zwei Köpfe größer als David, weiß auch ganz gut um ihre Stärken, aber was nützt das Selbstbild in Gedanken, wenn die Erwachsenen Anita verkennen? Der Schuldirektor der weiterführenden Schule, an die Anita nach den Sommerferien wechseln soll, führt das Mädchen durch die schmucklosen Korridore. Seine Augen leuchten, als sie das Zimmer mit der schuleigenen Modelleisenbahn betreten. Nur schade, dass Anita sich mehr für Musik und Tanzen interessiert, dass ihr größter Wunsch es ist – eben typisch für eine Zwölfjährige – Model zu werden und – eher untypisch für eine Zwölfjährige – endlich „Papiere“ zu bekommen, wie sie sagt. Das Nichtvorhandensein dieser, macht dem Roma-Mädchen aus dem Kosovo das Leben in Deutschland schwer. Anitas Interesse an verspielten Modelleisenbahn-Idyllen ist dabei genauso durchwachsen, wie ihr Interesse an dem Besuch dieser Sonderschule. Was würde sie dafür geben, in  Berg-Fidel auch nach der Grundschulzeit noch lernen zu können?

Hella Wenders erzählt in ihrem Dokumentarfilm von jungen Menschen, die nicht in die Norm passen, aber nicht weil sie so beeindruckend anders sind, sondern weil Menschen das generell so selten tun. Trotzdem müssen die Kinder sich auch in diesem Film irgendwann miteinander messen, werden auf verschieden leistungsstarke Lernanstalten geschickt. Die einen werden dann gefördert und die anderen verwaltet. Und Anita ist ein großer Verwaltungsakt: in der vierten Klasse ist sie das älteste und größte Mädchen, nach den Sommerferien reicht es nur für den Übergang zur Sonderschule, weil es in der umliegenden Gegend keine integrative Hauptschule für Anita gibt und auch weil ihr Duldungsstatus es nicht erlaubt NRW zu verlassen.

Auch wenn „Berg Fidel – Eine Schule für alle“ das reformpädagogische Thema der Inklusion aufgreift, dass nicht neu ist und Wenders Darstellung von Berg Fidel in vielen Szenen überaus malerisch und des öfteren sehr unkritisch den dortigen Schulalltag skizziert, ist es eine Freude, den Kindern zuzusehen. Natürlich auch, weil Filme über Schule grundsätzliche Filme sind, zu denen jeder was sagen kann, weil sich jeder selbst in ihnen wiederfindet und beim Zuschauen das Bedürfnis verspürt, den Alltag der kindlichen Protagonisten mit der eigenen Schulvergangenheit abzugleichen. Wichtig für die Glaubwürdigkeit der dargestellten Szenen wäre es trotzdem gewesen, auch die Nachteile eines solchen Zusammenlernens zu zeigen, dieser Thematik hat sich Hella Wenders aber explizit verweigert.
Das Endergebnis kann sich trotzdem sehen lassen. Denn Berg Fidel ist weniger Werbung für sich, als ein Nachdenken darüber, wie Schule eigentlich sein sollte. Wie sehr muss Wettbewerb gefördert werden? Wie wichtig ist dagegen Solidarität und Gemeinschaft? Wo ist die goldene Mitte und wie sieht diese für den Einzelnen aus? Eine der gesellschaftlichen Fragen, die auch im Jahre 2017, fünf Jahre nach Erscheinung des Filmabenteuers, ihre Gültigkeit nicht droht zu verlieren, und deswegen im Herbst auf der VIENNALE, in der Kategorie DOKUMENTARFILM, großen Anklang erfuhr.

 

Gesehen auf der 55. VIENNALE in Wien.