Worte europäischer Vergangenheit im Mund, zeigt Stanislaw Muchas Film Szenen aus deren Nachgeschichte. Zwei große Heimwehlieder der antiken Hochliteratur führt er im Titel und beide handeln sie vom Verlust der Heimat, vom Verlorengehen in der Fremde, vom Exil – von Europa. Das eine ein Heldenepos, das andere eine Sammlung von Klageliedern, das eine erzählt von Mittelmeerabenteuern, das andere malt Bilder einer Schwarzmeertristesse. Die Menschen dagegen, denen Mucha auf seiner Reise entlang des Schwarzen Meers in dessen Anrainerstaaten begegnet, sind beklagenswert heldenlos. Ihre Politiker faul und korrupt, Lenin und Stalin ein einziges Unglück, der verehrte römische Exilant in Wahrheit dumm oder pädophil, das Volk ohne Verstand und Logik, die Frauen wie die Maultiere schuftend und dick wie Fässer, die Männer unnütz, Medea eine Hure, und doch: es ist gerade kein Krieg, das schwarze Meer gehört ihnen, lockt die Touristen, die Sterberaten sind stabil – es geht ihnen gut. An den Krieg will niemand denken, keiner kann ihn vergessen.

Die Reise des Films beginnt in Ovidiopol, einer nach dem Autor der Tristia benannten ukrainischen Stadt westlich von Odessa, und führt über Russland (mit einem Besuch in der Olympiastadt Sotschi) und Georgien in die Türkei, um über Bulgarien zurückzukehren zu Ovid, nach Rumänien, in die Stadt Constanta. Stets präsent, in den Bildern wie in den Worten der interviewten Menschen, ist dabei jenes andere, jenes vergessene mare nostrum am Rande Europas, das, Zentrum eines zwischen kommunistischer Nachgeschichte und den wetterleuchtenden Versprechen einer kapitalistischen Zukunft eingerichteten Wartesaals der Geschichte:
„Das allerblauste auf der Welt, mein geliebtes schwarzes Meer“, heißt es in einem der zahlreichen Lieder, in denen die Bewohner der Küstenländer ihren ganzen Stolz besingen. Dass es Mucha gelingt, diesem Stolz und diesem Gesang Gehör zu schenken, ohne die Resignation, den Zynismus und die stoische Bitterkeit seiner Gesprächspartner in folkloristischem Kitsch oder weinerlichen Bedauern zu ertränken, ist nicht die geringste Qualität des Films. Weil er selbst Haltung bewahrt, weil er sich alle Werbetrommelei und jede Betroffenheit versagt, bewahrt er die Würde derer, die er filmt. Die wohltuende Enthaltsamkeit gegenüber den Verlockungen der elendstouristischen political correctness macht den Film bei aller Rohheit des Gezeigten aushaltbar, und zuweilen sogar heiter:
„Die Deutschen werden lachen, wie es hier aussieht“ fürchtet ein Hotelier. Zuweilen tun sie das – aber im besten Fall mit den Schwarzmeermännern und – frauen und nicht über sie.

Das Ethos des Films artikuliert sich nicht zuletzt in seiner Bild- und Tonregie: Mucha, selbst nur als Stimme präsent, bewegt sich mit seiner Handkamera an den Worten, Gesten und Blicken der Interviewten entlang, ohne das Gesagte bloß zu bebildern, enthält sich aber zugleich aller auf- oder abwertenden Kommentare. In einer Szene filmt Mucha die Rückwärtssalti eines Jungen. Mehrfach fordert er ihn auf, sein Kunststück zu wiederholen – und vollbringt damit zugleich sein eigenes als Regisseur: Er reflektiert den Inszenierungscharakter der dokumentierten Körperlichkeit, indem er sie als inszenierte exponiert, und bekräftigt gerade so die Ethik des Dokumentarischen. Er dokumentiert den Prozess seiner eigenen Bildproduktion.
Wir hören, warum wir sehen, was wir sehen und machen en passant eine genuin filmische Erfahrung bewegter Körperbildlichkeit.
Überhaupt die posierenden und positionierten, die in Sport und Tanz sich verausgabenden Körper: In Sotschi wohnen wir panslawistischem „Olympiacheerleading“ bei, in Bulgarien werden bedrohlich große Botoxspritzen aus dem Bauchladen verkauft und immer wieder zeigt Mucha tanzende Kinder.

Tristia ist eine visuelle Meditation über blickende und erblickte Körper zwischen Land und Meer – und als solche natürlich zugleich eine Erzählung geschichtlicher Zeit: Mit dem immer wiederkehrenden Bild der ins Meer führenden Betonstege findet Mucha ein für seinen Film treffendes Leitmotiv, weil diese abgerissenen Straßen ins Graue als Sinnbild ebenso unüberwindlicher wie durchlässiger Grenzen fungieren. Die Menschen werden nicht deshalb nie zu Objekten, weil sie ihrerseits blicken, sondern gerade umgekehrt, weil sie in den allermeisten Fällen nicht zurück-, sondern durch die Kamera hindurchblicken. Die Ökonomie der Aufmerksamkeit, der Filmer wie Gefilmte unterworfen sind, bringt es mit sich, dass gerade der erwiderte Blick, wo er Begegnung auf Augenhöhe und face to face-Kommunikation suggeriert, zum Vehikel von Verdinglichung und Voyeurismus wird. Dabei, und dies ist entscheidend, verweigert sich Mucha dieser Selbsttäuschung nicht aus politischen oder moralischen, sondern aus ästhetischen Gründen:
Aus der Einsicht, dass man hinter ein Gesicht nicht filmen, aber dem, was jene, die ein Film zeigt, zu sagen haben, Raum und Zeit geben kann.

In einer der stärksten Szenen des Films geben zwei russische Jungen, das Schwarze Meer im Rücken, die Arme über die Schultern des anderen gelegt, ein Interview, um anschließend, den Blick noch immer in die Kamera gerichtet, langsam rückwärts zu gehen, in der Dämmerung schließlich zu Silhouetten werdend, zu Scherenschnitten am Abendhimmel. Ohne sich zu bewegen, durchschreitet die Kamera, die ihr Objekt nicht loslassen mag, die ihr gegebenen Dimensionen, ganz ohne 3D- Effekt sind wir einbezogen in den bewegten Raum einer erzählten Zeit.

(Festivalkritik im Rahmen des LICHTER Filmfest 2015)