Die junge Frau Lian wurde von ihrem Mann hintergangen. Eigentlich als trickreiches Manöver gedacht, reichten sie und ihr Mann einvernehmlich die Scheidung ein, damit sie sich eine zweite Wohnung sichern können. Scheidung mit dem Motiv einer gemeinsamen Vorteilnahme. Dummerweise heiratet Lians Mann Qin nach einem halben Jahr eine andere Frau. Das Manöver wird für Lian zu einem Fiasko. Nachdem sie öffentlich von ihrem Ex-Mann als Pan Jinlian, als „unreine“ Frau, diskreditiert wird, beginnt sie ihren Feldzug durch sämtliche Institutionen des chinesischen Rechtswesens.

Hinsichtlich seiner ästhetischen Gestaltungsmittel zählt der Film sicherlich zu den aufregendsten, weil radikalsten im Wettbewerb: Feng spielt mit Bildformaten. Über den Großteil des Films hinweg ist das Bild in eine Kreisblende gefasst. Dieser runde Bildausschnitt soll an traditionelle chinesische Wandmalereien aus Zeiten der Song-Dynastie erinnern, denen auch die Figur der sprichwörtlichen Pan Jinlian entspringt, einer „untreuen“ Frau (die vom internationalen Verleih für ein westliches Publikum unglücklicherweise mit Madame Bovary übersetzt wurde).

Erst als sich der Ort der Handlung für Lians beharrliche Klagen nach Peking verlagert, wechselt das Bild in ein nicht minder ungewöhnliches 1:1,66 Format. Nur zu Beginn des Films wirkt diese von allen Sehgewohnheiten losgelöste Bildgestaltung möglicherweise auf manchen Zuschauer störend. Die besondere Optik bringt jenseits ihrer Eyecatcherwirkung allerdings auch filmpraktische Probleme mit sich, beispielsweise bei der Montage. Hier scheinen die althergebrachten Regeln von Handlungsachse etc. einfach nicht mehr zu gelten, geschweige denn anwendbar zu sein. Lange Einstellungen dominieren den Film, nicht wenige Szenen sind in Plansequenzen realisiert. Der Blick wirkt eingeengt und gesteuert, ist nicht frei. Andererseits bietet paradoxerweise gerade die Beschränkung des Bildausschnitts auf dieses eigentümliche Guckloch eine gewisse Erweiterung der Sichtweise: die sichtbare Bildinformation ist minimiert, wir sehen faktisch weniger – aber gleichzeitig auf wundersame Weise mehr, oder anderes.

I AM NOT MADAME BOVARY feierte bereits im Februar 2016 auf der Woche der Kritik (url) seine Deutschlandpremiere in einer Kategorie mit dem Titel Apparatus. Damit wird einerseits auf die experimentierfreudige Bildgestaltung als filmtechnologische Innovation angespielt wie auch auf die kafkaesken Zustände und Verstrickungen im chinesischen Verwaltungs- und Rechtsapparat. Hierbei entwickelt der Film Momente bissiger Satire. Denn es entbehrt nicht einer ganzen Portion Ironie, dass ausgerechnet ein hochrangiger Parteifunktionär in Peking auf einem Parteikonvent ein flammendes Plädoyer für Lian hält, all die Ungerechtigkeiten anprangert, die ihr zugemutet wurden und dabei durchaus eine selbstkritische und gar vermittelnde Perspektive einnimmt. Wer hat aus der Mücke einen Elefanten gemacht? Das ist hier die Frage. Wer hat Lian in diese missliche Lage katapultiert, Jahr für Jahr aufs Neue sämtliche Funktionäre des chinesischen Apparats mit ihren juristischen Klagen zur Verzweiflung zu bringen? Sie bringt damit ja alle in Verlegenheit. Das System, all die Chiefs und Funktionäre, und am Ende vielleicht am meisten sich selber?

Es wird nicht vollkommen klar, ob der Film hier eine streng regierungskritische Position einnimmt, wie eine Lesart in der westlichen Rezeption des Films aussehen könnte. Denn gleichermaßen erscheint es denkbar, die grotesken Arbeitsweisen der illustren Kader und Konsorten als generelle Kritik an den Strukturen und Wirkweisen bürokratischer Apparate, insbesondere gegenüber Frauen, zu begreifen. Die verzweifelten Initiativen sämtlicher Männer in vermeintlichen Machtpositionen, die versuchen, Lian doch noch von ihrem Gang vors Gericht abzubringen, sind letztendlich viel mehr Verschlimmbesserungen als alles andere.

Doch I AM NOT MADAME BOVARY hat auch durch problematischere Passagen. Hierbei ist der größte Elefant im Raum, der allerdings als kleine Mücke abgetan wird, zweifelsohne eine durch und durch irritierende, fast beiläufig inszenierte Vergewaltigungsszene im zweiten Drittel des Films. Ohne Vorwarnung wird Lian von ihrem Lebensgefährten überrumpelt und im Off des kreisrunden Bildausschnitts vergewaltigt. Die pastellfarbene Wandtellerästhetik konterkariert hier auf brachiale Weise den Schrecken des Übergriffs. Die Szene ist umso verwunderlicher, als sie völlig isoliert dasteht und unkommentiert bleibt. Sie könnte, sollte, müsste ersatzlos gestrichen werden! Aber so ist das manchmal: sobald man denkt, „Umwerfend! Dieser Film macht alles richtig“, bekommt man sein vorschnelles Urteil um die Ohren gehauen.

von Mischa Schneider

Gesehen beim LICHTER Filmfest Frankfurt International im internationalen Wettbewerb zum Thema „Wahrheit“
Wiederholung am Sonntag, den 02. April 2017 um 14:30 Uhr im Mousonturm.