Sabine hält es nicht mehr aus. Die junge, alleinerziehende Mutter von drei Kindern wird mit der täglichen Belastung nicht fertig, denn sie fühlt sich wieder von inneren Dämonen verfolgt. Sie beschließt davonzulaufen – in das mysteriöse Sonnental. Von ihren Kindern verabschiedet sie sich hastig, schließlich möchte sie nach einem Wochenende zurückkehren. Doch aus Tagen werden Wochen der Abwesenheit, und ihr zwölfjähriger Sohn Jonas muss einsehen, dass er als ältestes der Kinder nun die Verantwortung für seine Geschwister Miechen und Nick trägt. Für die drei Kinder gilt es fortan, der Außenwelt die Abwesenheit der Mutter zu verheimlichen. Denn nur so, davon sind sie überzeugt, kommt Sabine eines Tages aus dem Sonnental zurück.

Mit ihrem Langfilmdebüt IM SPINNENWEBHAUS hat Regisseurin Mara Eibl-Eibesfeldt ein Werk geschaffen, das sich sowohl in seinem Erzählton als auch in der Bildsprache höchst wandelbar zeigt. Mit dem Verschwinden der Mutter rückt Kameramann Jürgen Jürges ganz dicht an die jungen Protagonist*innen heran und schafft es, deren fantastische Welt in passenden Schwarzweiß-Bildern einzufangen. Die kindliche Perspektive wird von Tieren und Pflanzen, Lichtspiel und Wasserfluss dominiert, welche immer wieder in Nahaufnahmen zur Geltung kommen. Jonas, Nick und Miechen kosten ihre neugewonnene Freiheit aus und erobern ihr eigenes Märchenreich – schließlich müssen große Mengen an Süßigkeiten vertilgt werden, und Kissenhöhlen bauen sich auch nicht von alleine.

Doch die Realität hält immer weiter Einzug und droht die Lügen der Kinder auffliegen zu lassen. Die Spuren der Verwahrlosung sind bald nicht mehr zu übersehen, Geld und Essen werden knapp. Jetzt stehen die Spinnen im Mittelpunkt des Films, deren sich ausbreitende Netze im Haus wie ein schwerer Vorhang auf Jonas‘ Gemüt liegen. Er droht das Schicksal seiner Mutter zu erleiden und an dem ungewohnten Druck zu zerbrechen. Der Film verdunkelt sich zusehends, während der Zwölfjährige dabei ist, seine Kindheit für beendet zu erklären.

Es ist der Obdachlose Felix, welcher diesen Schritt verhindert. Nach einer zufälligen Begegnung wird er zum einzigen Ansprechpartner für Jonas, während die zwei bei nächtlichen Touren die nötigsten Lebensgrundlagen ergaunern. Felix selbst ist nie erwachsen geworden, obwohl die Welt es von ihm verlangt hat. Wahrscheinlich ist er deswegen auf der Straße gelandet und nach eigener Aussage „nicht ganz richtig im Kopf“. Doch was hält das Erwachsensein für einen schon bereit? Jonas wird von Felix gewarnt: „Erwachsenwerden nimmt die Luft“; eine Zustandsbeschreibung, die die Mutter kurz vor ihrem Verschwinden für sich selbst wählte. Als Jonas zu mehr Vorsicht gegenüber der Außenwelt aufruft, erwidert sein Bruder vorwurfsvoll, er sei schon wie die Mutter.

Die charakterlich grundverschiedenen Brüder sind es auch, die dem Film seinen Antrieb geben und in ihren Auseinandersetzungen die wichtigsten Fragen aufwerfen. Als Nick seiner kleinen Schwester von dem Essensgeld einen überdimensionierten Plüschtiger kauft, ist Jonas anfangs außer sich, bis er realisiert, dass er in seinem Ordnungsbestreben Miechens Geburtstag vergessen hat. Wie wichtig ist es für ein Kind, Verantwortung zu übernehmen? Wer hat die bedeutendere Funktion unter den Geschwistern? Jonas als frühreifes Organisationstalent, oder der hyperaktive Nick, der Miechen konstant bespaßt?

Nicht wenige dieser gewichtigen Fragen hat Mara Eibl-Eibesfeldt in ihr Vorstadtmärchen eingewoben. Sie klingen nur leise an, werden übersehen, wenn man nicht genau hinblickt. Wie die zahlreichen Spinnen und Käfer, die scheinbar nur mit Kinderaugen wahrzunehmen sind.

Moritz Lentzsch

Zu sehen beim LICHTER Filmfest Frankfurt International, Mal Seh’n, Sonntag 3.4.2016, 14:00 Uhr