100 Jahre nach den Massakern am armenischen Volk nimmt uns der Schauspieler Alain Croubalian mit auf eine Reise von Basel über Marseille und Jeriwan bis in die entlegenen Bergregionen des Kaukasus. Wenig erfahren wir dabei aus seiner Familiengeschichte. Haben die Vertriebenen jegliche Erinnerung mit in ihre Gräber genommen? Alain Croubalians Urgroßvater arbeitete in Damaskus, als ihn die Nachricht von der Ermordung seiner Familie erreichte. Er sollte niemals zurückkehren. Einmal traf er in den 1940er-Jahren einen entfernten Cousin in Kairo, den er als fremd beschrieb. Schon hier wird angedeutet, dass sich die Frage nach Herkunft, Heimat und Vertreibung nicht gradlinig erzählen lässt.

Wird hier die persönliche Lebensgeschichte eines Darstellers erzählt oder die eigene Geschichte einer Kunstfigur, die sich dem Sog der Vergangenheit aussetzt? Der Film ARMENIA von M.A. Littler verführt uns in langsamen, elegischen Bildern und Soundflächen in ein Mosaik aus Text- und Geschichtsfragmenten. In collagierten Andeutungen gelingt es dem Film am Beispiel der Kultur Armeniens auch eine universelle Geschichte von Exil und Diaspora zu erzählen.
Textfragmente des Dichters Kenneth Patchend und innere Monologe des Darstellers, Briefe an Verwandte, die er nicht kannte, überlagern sich mit Auszügen aus französisch- und deutschsprachigen diplomatischen Dokumenten zum Genozid von 1915:

„Wir sind in die Welt geworfen und wollen nicht atmen.“
„Gott starb. Wir wurden obdachlos.“
„Wir sind körperlich und geistig vertrieben- kein Stolz, keine Wut.“
„Wir sterben nicht- wir erlöschen.“

Wir begleiten Alain Croubalian durch Bibliotheken, Hotelzimmer, Restaurants, durch Städte ohne Namen, lesen in der Landschaft seines Gesichts, beobachten ihn auf endlosen, belanglosen Spaziergängen. Wie begegnen sich Generationen in Exil und Diaspora? Dann plötzlich belohnt uns der Film mit der Ankunft in Armenien: kathedralenhafte Bahnhofsarchitekturen und palastgleiche U-Bahnstationen zeugen von der langen Anwesenheit der Sowjets. Im Sergei Parajanov Museum in Jerivan lesen wir mit Alain Croubalian ein Kunstbuch von Arshil Gorki, tauchen ein in eine riesige Menschenmenge, die sich beinahe schweigend im nicht enden wollenden Aprilregen zum Mahnmal für die Ermordeten bewegt. Weiter reisen wir in einem sowjetischen Zug Richtung Sewan. Eine Mädchenstimme singt sanfte Lieder von Sayat Nova zum Rattern der Gleise.

„Eastern Turkey is Western Armenia» steht in großen weißen Lettern an einer Bergwand nahe der Grenze zur Türkei. Eine Grenze, die Alain Croubalian nicht überschreiten darf. Auch wenn der Berg Ararat in der heutigen Türkei liegt, ist er ein Nationalsymbol der Armenier. Langsam verliert sich der Darsteller in Berglandschaften. Kleine Gesten bekommen große Bedeutung: Alain Croubalian wäscht sein Gesicht im Bergsee von Sewan, brennende Kerzen schwimmen im Taufbecken der byzantinischen Basilika. Ein Pantomime aus einem von Parajanovs Filmen schüttet Asche auf ein weißes Tuch in seinen Händen. Kaukasische Geier kreisen am Himmel, fast wie damals auf dem Todesmarsch. Dann repariert Alain Croubalian seinen ausgetretenen Schuh an den Berghängen des Kaukasus mit Gaffa-Tape. Wo hat er das her? Vom Filmteam ausgeliehen? Wir reparieren alles mit Gaffa beim Film: Kaffeebecher, Lampengehäuse, Mikrofonkörbe, gebrochene Herzen. Danke, Herr Littler, dein Film hat Humor und zudem meine Liebe zu armenischer Musik geweckt.

Von Michel Klöfkorn

Gesehen beim LICHTER Filmfest Frankfurt International im Wettbewerb der regionalen Langfilme.