© goEast Filmfestival

Als die aufgelöste Rezeptionistin Lamija das Büro ihres Vorgesetzten Omer stürmt und ihn bei der Suche nach ihrer entführten Mutter um Hilfe bittet, ist er zu keiner anderen Reaktion fähig, als sie sexuell zu belästigen. Während Lamija ihn unter Tränen darum bittet aufzuhören, knöpft er ausdruckslos ihre Bluse auf und packt resigniert an ihre Brüste. Vor der Tür steht Rijad, der in Lamija verliebt ist. Er könnte helfen, doch er entscheidet sich gegen die Konfrontation mit seinem Chef und entfernt sich von der Szene. In diesem Moment verliert Sarajevos Grand Hotel Europa seinen letzten Glanz. Dabei schien zu Beginn des Films noch alles gut zu laufen. Das Haus ist wegen einer Veranstaltung für Frieden und Verständigung mit wichtigen europäischen Gästen ausgebucht. Es ist der hundertste Jahrestag jenes Attentats, das als Auslöser für den Ersten Weltkrieg gilt. Auf dem Dach wird ein Dokumentarfilm über den Erzherzog Franz Ferdinand und seinen Attentäter Gavrilo Prinzip gedreht, und ein französischer Ehrengast übt in der Präsidentensuite seine Rede für die große Veranstaltung ein. Hotelchef Omer ist in heller Aufregung, denn das einst angesehene Hotel läuft seit einiger Zeit nicht mehr gut.

Im massiven Betonklotz aus kommunistischer Besatzungszeit wird Alle Menschen werden Brüder auf bosnisch eingeübt, die Flagge von Bosnien und Herzegowina hängt gleich neben der europäischen auf Vollmast. Doch nur ein paar Stockwerke unter der kommunistisch-pompösen Eingangshalle geht es alles andere als harmonisch zu. Dort planen die Mitarbeiter des Hotels einen Streik – sie sind seit zwei Monaten nicht mehr bezahlt worden. Schnell wird Hatidza, Lamijas Mutter, zur Anführerin im Arbeitskampf gewählt. Lamijas Proteste nutzen nichts, ihre Mutter hat entschieden, „nicht mehr am Rand zu stehen und einfach zuzuschauen“.

Doch es ist gewissermaßen das weiße Hemd vom Ehrengast Jacques Weber, das innerhalb einer Stunde gereinigt und gebügelt werden soll, das einen durch die ersten Ebenen des Hotels leitet. Es wird in der hauseigenen Wäscherei gewaschen und arbeitet sich über Lamija bis in die oberen Stockwerke des Hauses vor. In den Etagen begegnet man unterschiedlichen Mikrokosmen. Da ist der Stripbarbesitzer Enco, der sich deutlich hinter der Linie der Legalität bewegt und mit seinen Schlägertrupps den Mitarbeiter-Streik verhindern soll. Oder Wachmann Sef, der sich in regelmäßigen Abständen durch Koks vor den unbezahlbaren Konsumbegehren seiner Frau hinwegrettet. Oben auf dem Dach wird wiederum zwischen der Moderatorin Vedrana und Gavrilo, einem Namensvetter Princips, hitzig über die Konflikte des letzten Jahrhunderts diskutiert. Dabei kennt man selbst als in Geschichte versierter Zuschauer nicht alle genannten Namen. Doch das stört nicht. Der zugrunde liegende Konflikt der Menschen in Sarajevo wird einem dennoch klar.

Es sei ihr überhaupt nicht schwer gefallen, die Zusammenhänge im Film zu verstehen, soll Meryl Streep auf der Berlinale gesagt haben. Es sei alles ein bisschen wie bei Tschechow. Und tatsächlich ähnelt der TOD IN SARAJEVO dem Tschechow-Universum, einem „Kirschgarten“ oder einem „Onkel Wanja“. Es sind die typischen Verquickungen unterschiedlicher Beziehungen und Zufälle, die allesamt die Unfähigkeit seiner Helden, zur rechten Zeit zu agieren, aufzeigen. Auch das Tschechowsche Gewehr, das im ersten Akt hängen und im letzten schießen muss, wurde von Danis Tanović sorgfältig am Anfang des Films platziert. Es ist der Anschlag auf Franz Ferdinand, der Auslöser des Ersten Weltkrieges. Davon ausgehend bearbeitet der Film die Frage, wie und ob sich irgendetwas im Laufe von Jugoslawiens Geschichte verändert hätte, wäre es nicht zum Anschlag gekommen.

Und eben als der französische Schauspieler beim Probedurchlauf seiner Rede den Bogen vom Bosnien-Krieg zu Auschwitz spannt, taucht der Konflikt schlussendlich auf die Oberfläche. Das Massaker von Srebrenica, das vor Augen der internationalen Weltöffentlichkeit geschah. Ein geduldiges Aushungern der Menschen in der Stadt, bevor man sie Monate später folterte, vergewaltigte und tötete. Wie lebt man als Land nach solchen Ereignissen weiter? Aber eben auch, wie lebt man als Europa mit der Bürde der Verantwortung, zugeschaut zu haben? Tanovićs Antwort darauf scheint: man tut es, wenn es vielleicht auch nicht funktioniert. Die Menschen im Hotel Europa bewegen sich zwischen der Unfähigkeit, das Geschehene zu vergessen, und kompletter Verdrängung. Die einen kaufen ein neues Sofa, die anderen greifen zur Waffe. Der französische Schauspieler hingegen spricht sich selbst über die Tragödie hinweg.

Rechnet man Tanovićs Sarajevo anfänglich Zeichen des Fortschritts zu – die Frauen behaupten sich gegenüber den Männern, die Stadt wirkt modern und dynamisch, und im Hotel Europa wurde letztes Jahr sogar Angelina Jolie empfangen. So fällt am Ende das Bild dieses Fortschritts mit jedem durchquerten Stockwerk immer mehr in sich zusammen. Zurück bleiben weinende Frauen, resignierte Männer und Jacques Webers sauberes europäisches Hemd – bloße Requisite für ein Theaterstück.

Olga Galicka

TOD IN SARAJEVO lief als Eröffnungsfilm des goEast Film Festival 2016 und zuvor im Wettbewerb der Berlinale 2016.