Literatur, Politik und Philosophie kennzeichnen die Welt von Nathalie Gazeau (Isabelle Huppert) – besonders letztere macht einen großen Anteil ihres Lebens aus, denn Nathalie ist Philosophie-Lehrerin in Paris. Von dem von ihr geförderten Doktoranden Fabien (Roman Kolinka) auf die Unvereinbarkeit ihrer bürgerlichen Lebensweise mit den von ihr vermittelten Lehrinhalten angesprochen, erklärt Nathalie, dass sie sich von der politischen Radikalität längst verabschiedet habe: „Ich will keine Revolution anzetteln. Ich lehre junge Menschen für sich selbst zu denken.“

Nathalie hat ein gutbürgerliches Leben, ist Mutter zweier erwachsener Kinder und seit 25 Jahren verheiratet. Sie ist ständig auf Achse und in Bewegung. Wir sehen sie in zahlreichen Verkehrsmitteln, stets mit einem ins Bild gehaltenem Buch, auf dem Weg zum nächsten Ziel. Schon zu Beginn des Films erleben wir sie als agile, durchsetzungsfähige Frau, so zum Beispiel als sie sich gegenüber jungen Streikenden behaupten muss, die zwei Studentinnen den Zutritt in die Universität verweigern. Nathalies Alltag ist von Routinen geprägt, bekommt jedoch abrupt einige dramatische Wendungen.

Nathalies demente und depressive Mutter Yvette (Edith Scob) terrorisiert wahlweise sie oder die städtische Feuerwehr mit Anrufen. Ihr Zustand bringt Nathalie dazu, sie in ein Altenheim zu bringen, in dem sie schließlich stirbt. Als ob das nicht schon genug wäre, eröffnet ihr die Marketingabteilung ihres Verlags, dass sie für ihre Edition philosophischer Grundlagentexte eine Umgestaltung vorgesehen hat und beendet schließlich die Zusammenarbeit. Ihr Mann Heinz (André Marcon) eröffnet ihr, dass er sie nach 25-jähriger Ehe für eine jüngere Frau verlässt. Hier teilt sie das Schicksal ihrer Mutter. Mia Hansen-Løve erzählt diese Reihe von Schicksalsschlägen in angenehm unaufgeregter Weise. Angesichts der Katastrophen auf beruflicher und privater Ebene bleibt Nathalie erstaunlich gelassen. Als sie entschlossen durch ein Watt stapft, auf der Suche nach Handyempfang, wirkt sie trotz ihrer momentanen Orientierungslosigkeit nicht verloren. Nur Nathalies Umgang mit einer Blumenvase in ihrer Wohnung ist ein kleines Zeichen ihrer inneren Erschütterung.

Isabelle Huppert spielt eine starke Frauenfigur, die nicht von der Einsamkeit und den Verlusten, die das Leben für sie bereithält, gezeichnet scheint, sondern ihnen trotzt. Nur zweimal sehen wir sie weinen und bekommen kurz einen Eindruck von ihrer Zerbrechlichkeit. All diese Verluste führen aber eben nicht dazu, dass sich ALLES WAS KOMMT (L’AVENIR) zu einem Seelendrama verwandelt. Der Nachricht ihres Mannes entgegnet Nathalie neutral und abgeklärt: „Ich dachte, du liebst mich für immer“. Dann werden die gemeinsamen Bücher untereinander aufgeteilt.

Nathalie wird konfrontiert mit einer neuen Form von Freiheit, die sie langsam zu spüren beginnt. Sie ist gezwungen, ihr Leben neu zu ordnen. Den Anfang macht sie mit der Entscheidung das Ferienhaus der Familie ihres Mannes in Zukunft nicht mehr aufzusuchen. Regelmäßig besucht Nathalie ihren Schützling Fabien in seiner Wohngemeinschaft auf einem Bauernhof in Vercors – aber nie um zu bleiben. Ihre Reise geht weiter. Nathalie wird stark geprägt von dem, was sie liest: sie erklärt uns ihr Verhältnis zu Fabien indirekt durch ein Zitat Jean-Jacques Rousseaus, das besagt, dass wir glücklich sind, solange wir begehren, und die Vorstellung stärker ist, als die fleischliche Lust. Nathalie beschließt ihn aus der Ferne zu begehren, das allein reicht ihr zum Glück. Nach einem ihrer Abschiede verweilt die Kamera etwas länger auf Fabien und zeigt sein Gesicht in Großaufnahme. Es fällt ihm sichtbar schwer, sie gehen zu lassen.

ALLES WAS KOMMT ist eine gelungene Studie über das Älterwerden, über Umbrüche und Veränderungen im Leben geworden. Der Film lebt ganz klar von Isabelle Huppert, die in gewohnt souveräner Manier auf eindrucksvolle Weise ihre Rolle verkörpert: eine Frau am Wendepunkt ihres Lebens. Man kann mit Vorfreude die kommenden Arbeiten der jungen Filmemacherin Mia Hansen-Løve erwarten und es ist zu hoffen, dass ihr auch ohne eine so herausragende Schauspielerin weitere Glanzstücke gelingen.

von Carolin Hartmann

Gesehen beim 10. LICHTER Filmfest Frankfurt International im Programm der regionalen Langfilme.
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